1982 war das lyrische Debüt des Arztes Thomas Luthardt herausgekommen. „Assistenz“ lautet der Titel dieses Gedicht-Bandes.
Zudem präsentiert die heutige Post aus Pinnow zwei Bücher von Martin Meißner. In „Die Schlacht auf dem Kapaunsee“ aus dem Jahre 1976 geht es um alte Rivalitäten und neue Lebensgewohnheiten auf dem Lande, als Bauernhöfe längst zu Genossenschaften zusammengeschlossen und die Arbeit mehr und mehr wie in der Industrie organisiert worden war.
In „Die Feuerfontäne“ aus dem Jahre 1977 gerät das sagenumwobene Dorf Holligau im Mecklenburgischen in große Unruhe. Denn dort wird nach Erdgas gebohrt. Was unterschiedliche Reaktionen der Dorfbewohner auslöst.
Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute geht es noch einmal zurück in die Mitte des vorigen Jahrhunderts, als ein großer Krieg zu Ende ging und die Hoffnung auf einen großen Frieden stark war. Wie war es damals?
Erstmals 1974 veröffentlichte Erik Neutsch im Mitteldeutschen Verlag Halle (Saale) „Der Friede im Osten. Erstes Buch. Am Fluß“, das fast ein Dutzend Auflagen erleben wird: Ein Apriltag des Jahres 1945. An einer Panzersperre erleben Achim Steinhauer und Frank Lutter als Hitlerjungen das Ende des Krieges. Aber war wirklich zu Ende, was sie mit Blut beschworen hatten?
Achim Steinhauer wird es nicht leicht haben, seinen Weg aus den Verstrickungen der geschlagenen Welt des Faschismus in eine neue Zeit zu finden. Er begegnet schwierigen Situationen, er erkennt seine künftigen Freunde nur schwer, etwa Matthias Münz, den Kommunisten, der aus dem KZ kommt. Auch Franks Weg, der sich bald den antifaschistischen Kräften anschließt, versteht er zunächst nicht. Und schwierig wird für ihn die Zeit im Gefängnis, wo ihm schließlich der sowjetische Oberst Koschkin zu sich selbst und zur Freiheit verhilft.
Bewähren und bestehen muss er die Station der Schule, wo man ihn, den Arbeiterjungen, anfeindet und vor allem wird ihn seine Liebe zu Ulrike Jaro in konfliktreiche Situationen führen. Wie wird er das alles meistern, und wie werden es seine Freunde schaffen?
Davon erzählt Erik Neutsch in außerordentlich bewegenden und packenden Menschenschicksalen im ersten Buch seines großen Romanzyklusses „Der Friede im Osten“.
Entdecke eine fesselnde Leseprobe:
Das Haus, mit Fichten und Kiefern im Hintergrund, lag am Hange der Wachwitzer Höhen. Er sah eine Frau im Garten, mittleren Alters, hoch in einem Baum, auf einer Leiter. Sie pflückte Äpfel, ihr Kopftuch leuchtete, und so er sich recht erinnerte, war sie Elisas Mutter. Freude überkam ihn. Also hatte der Krieg sie verschont, waren die Bombennächte an ihnen vorübergegangen. Doch er rührte sich nicht, stand am Zaun, scheute das erste Wort. Er verfolgte ihre Bewegungen, sah, wie sie die Äpfel behutsam von den Zweigen brach und in einen Korb legte, und er hoffte auf irgendein Zeichen, das ihm Auskunft geben würde, wie sie, die Eltern und ihre Tochter, während der letzten zwölf Jahre gelebt hatten. Von Elisas Vater, einem Gelehrten der Ingenieurwissenschaften, wußte er, daß er sich einst, zum Verdruß seiner Fachkollegen, der Sozialdemokratie angeschlossen und sofort nach Hitlers Machtantritt Berufsverbot erhalten hatte.
Plötzlich wandte die Mutter ihm ihr Gesicht zu. Es war, als habe sie seine Blicke gespürt. Ihre Augen waren so groß und so klar wie die Elisas, klarer, empfand er, was aber wohl daran lag, daß sie sich hell von dunkler Sonnenbräune abhoben. Doch sie begriffen nichts. Sie sahen nur, daß da ein Mann stand und wortlos wartete.
Ich bin …“, begann er, beinahe flüsternd. „Ich bin …“ Er wollte seinen Namen nennen. Aber seine Zunge war wie wund.
Elisas Mutter stieg von der Leiter. Er bemerkte, daß sie beunruhigt und erstaunt zugleich sein Gesicht absuchte. Sie ahnt etwas, dachte er, doch sie erkennt mich nicht. Die Brille, das schüttere Haar, Spuren der Qual im Stollen, der Auspeitschungen und der Dunkelzellen, alt mußt du geworden sein, Matti. Er riß die Brille von seinen Augen, schloß die Lider.
Da stieß sie einen kleinen Schrei aus. „Matthias, Matthias, du bist es? Du lebst?“
„Ja“, sagte er und versuchte ein Lächeln. „Wie Sie sehen … Und ich suche Lies.“
Nachdem er seine Brille wieder aufgesetzt hatte, entdeckte er in ihren Augen den Schimmer nur schwer unterdrückter Tränen. Sie klinkte die Gartentür auf, nahm seine Hand und lud ihn ein, über Nacht zu bleiben. Ihr Mann und auch Lies würden bald kommen. Er unterrichtete Lehreranwärter, und sie teilte in irgendeiner Küche Mahlzeiten an Obdachlose aus.
Auf der Veranda stand ein Kinderwagen. Ein Säugling lag darin, dem sie aus einer Flasche zu trinken gab. Gierig saugten die Lippen.
„Ich kümmere mich um das Kleine“, sagte sie. „Diesmal ist es ein Junge.“
„Ist sie … Sie ist …“, stammelte er.
„Ja.“ Sie beugte sich über den Wagen und sah nicht, wie sein Gesicht versteinerte. „Sie hat lange auf deine Rückkehr gewartet. Aber dann … Dann gab sie die Hoffnung auf.“
Ein zweites Mal schloß er die Augen. Er hörte das Schnaufen und Schmatzen des Kindes. Ihres Kindes. Von einem anderen, einem, der nicht wie er verfolgt worden war. Der nicht gegen Hitler … Den die Gestapo nicht … Aber stimmte es denn? Warum ein solcher Verdacht? Und seit wann haßte er wieder die Siechen und nicht die Seuche? Doch so sehr er sich auch zu wehren versuchte, er kam dagegen nicht an. Die Enttäuschung, der Haß. So große Qual, dachte er, habe ich nicht einmal im Stollen gelitten. Heraus, heraus, befrei dich von diesen Trümmern. Die Brust tat ihm weh. Und er stand auf und ging, sah in das erschrockene Gesicht von Elisas Mutter und fand nicht einmal ein Wort des Abschieds.
Hier eine Kostprobe aus den „Bitterfelder Geschichten“ von Erik Neutsch:
Es war ein ungewöhnlich sonniger Frühlingstag. Die Backsteinmauern und die schmutzigen bleigefaßten Fenster der Werkhallen lagen von gleißendem, wärmendem Licht überflutet, als seien sie südliche Weinhänge. Auf dem Fabrikhof verdampften die Pfützen, die eine Regenhusche in die Riefen zwischen den Pflastersteinen gestreuselt hatte. Auf der Straße hatten die Bäume an alle Zweige zartgrüne Wimpelketten gesetzt. Die Arbeiter, die nach dem Schichtwechsel dem Werktor enteilten, knöpften die Joppen auf und schoben die Mützen ins Genick.
Karl Greiner trank die flirrende Luft in vollen, genießerischen Zügen. Sie schmeckte nach Ackererde, sie hatte den Geruch der Flußniederungen. Als er an den Haltestellen die Menschen sich in die Straßenbahnen drängen sah, entschied er sich, den Weg nach Hause zu gehen. Er floh die wildbewegte, tosende Ausfallstraße, die die Bezirkshauptstadt mit den benachbarten Chemiebetrieben und den Braunkohlengruben des Geiseltals verbindet. Zu beiden Seiten der Straßenbahnschienen schoben sich die Lastwagen und Personenautos aneinander vorbei, bremsten scharf, hupten ärgerlich und ratterten davon. In den tausend Scheiben, im Chrom und Lack der hin und her flitzenden Fahrzeuge schien die Sonne wider. Über den Dächern segelten schmutziggraue Wölkchen in die blaue Weite des Himmels.
Karl Greiner bog von einer Straße in die andere ein. Er floh den lärmenden Verkehr der Nord-Süd-Achse. In den stilleren Seitenstraßen drückte die Wärme die Rauchfähnchen spärlich geheizter Öfen auf die Bürgersteige. Aus geöffneten Fenstern drang Radiomusik. Die Katzen schrien.
Kaum hatte der Schlosser die Kiespfade eines erst vorjährig angepflanzten Parks betreten, sah er eine Frau auf sich zukommen. Ein enggeschnittener Mantel verdeckte ihre Waden. Er wich ihr aus. Sie trug eine Kollegtasche unter dem Arm, vielleicht studierte sie an der hiesigen Universität. Hinter der nächsten Wegkrümmung verharrte Greiner und blickte der Unbekannten nach. Selten sah er jemandem nach. Sie ging hoch aufgerichtet und abweisend.
Nicht öfter als drei-, viermal hatte Greiner Mädchen besessen, allerdings niemals nur einen Tag, aber auch nie länger als einige Monate. Stets hatte er mehr erwartet, stets hatte er weniger gefunden. Aus Liebeleien machte er sich nichts, Weibergeschichten verabscheute er. Die Frauen waren ihm davongelaufen, nicht er den Frauen. Wenn die Mutter ihm sagte: Junge, es wird Zeit mit deinen fünfundzwanzig Jahren, winkte er ab und machte den Ehestand lächerlich, darauf bedacht, heiklen Gesprächen zu entgehen.
Jetzt ertappte er sich dabei, daß er schon mehrmals an die Unbekannte gedacht hatte: über der Erbsensuppe, die die Familie schweigend löffelte; als er den Kalk einrührte, um mit dem Vater wie in jedem Frühjahr den niedrigen, muffigen Korridor zu weißen; abends, während der Verschnaufpausen zwischen den Übungen an den Turngeräten. Er versuchte, sich der Züge des Mädchens zu erinnern. Es gelang ihm nicht. Er sah die Blässe des fremden Gesichts, einen auffallend roten Mund, der traurig wirkte. Er wußte, daß die Unbekannte Schuhe mit flachen Absätzen getragen hatte, doch hatte sich ihr Gang in sein Gedächtnis eingeprägt, als sei sie auf hochhackigen Pumps geschritten, die er nicht leiden mochte. Es hatte keinen Zweck, ihrem Erscheinen nachzusinnen. Als er hinter den Büschen gestanden, war sie plötzlich seinen Blicken entschwunden. Die Mauer, die den Park begrenzte, hatte sie verschluckt.
Karl Greiner riß sich von der Begegnung los. Gewaltsam sperrte er das Mädchen aus seinen Träumen aus.
Die Tage verstrichen. Der Wind fegte den Himmel blank. Die Sonne hatte den Sand des Winterschlafs aus den Augen gerieben. Die Krokusse stachen weiß und violett die Erde auf. Die Spatzen zankten und lüfteten ihren Federpelz. Auf den Straßen wirbelten die Autos Staub auf. Karl Greiner sehnte sich, das Mädchen wiederzusehen.
Wieder ging er die Straßen entlang, die ihn aus dem Trubel des Verkehrs hinausführten. Hinter den Fenstern der Kesselschmiede dröhnten die Preßlufthämmer und zuckten die blauen Flammen der Schweißbrenner. Die Lagerplätze der Fabrik lagen öde und verlassen, unter Teerpappdächern war Holz gestapelt, Berge verrosteten Schrotts warteten jahrelang auf die Einschmelze, Quecken rankten vergilbt um die Eisenteile. Greiner beschleunigte seine Schritte, ungeduldig strebte er dem Park zu. Er hoffte, die Unbekannte ein zweites Mal zu treffen, hoffte, daß sie damals den Weg nicht wie er zufällig gegangen. Das mit den verwitterten Schrotthaufen mußte die Gewerkschaft erfahren, dachte er zwischendurch, spare mit jedem Gramm… Dann wieder bemächtigte sich seiner eine ungewöhnlich hellhörige Aufmerksamkeit, die nur auf die Begegnung gerichtet war. Er schaute in alle Häuserwinkel hinein, er musterte jeden Fußgänger, den er irgendwo auftauchen sah. Manchmal begann sein Herz schneller zu klopfen, wenn er eine Frau gewahrte, an der ihn von weitem irgendeine Kleinigkeit, die Farbe des Mantels vielleicht oder die Art, die Tasche zu halten, an die Fremde erinnerte. Auf gleiche Weise hatte er sich in den letzten Tagen schon des öfteren narren lassen.
Beinahe wären die beiden aufeinandergeprallt. Als Greiner um die Mauer bog, die den Park auf der einen Seite von den Hinterhöfen der angrenzenden Mietshäuser trennte, stand das Mädchen vor ihm. Es hielt erschrocken inne und sah dem Arbeiter groß in die Augen. Er merkte, wie es seine Blicke über ihn hinweggleiten ließ. Er fühlte sich gemustert und errötete. Er glaubte nicht anders, als daß die Unbekannte seine Gedanken erriete, als daß sie den Grund seiner Anwesenheit erahnte.
Sie lachte. Silbern. Ein wenig zu schrill.
Greiner hatte sich das Wiedersehen völlig anders ausgemalt. Er hatte seine Schritte verlangsamen wollen, sobald er sie entdeckte. Ihre Gestalt wollte er abforschen, ihr Gesicht, ihre Haare, ihren Mund… Jetzt verwirrte ihn ihre Nähe, und er senkte den Kopf und eilte von dannen. Als er sich nach ihr umdrehte, fand er sie nicht mehr.
Aber er war froh. Er hatte sie wiedergetroffen. Er würde ihr wieder und wieder begegnen, täglich in diesem Park, der noch vor kurzem eine Trümmerstätte zerbombter Häuser gewesen war, den man angelegt hatte, um die Toten zu vergessen, die unter ihm lagen. Das schöne Mädchen hatte ihm zugelacht, seine Stimme klang ihm in den Ohren nach. Sie waren nicht nur aneinander vorbeigelaufen, sie besaßen ab heute eine Gemeinsamkeit. Das halb erschrockene, halb belustigte Lachen der schwarzhaarigen Fremden hatte allein ihrer plötzlichen Begegnung gegolten. Außer ihm hatte es niemand gehört. Oder hatte sie über sein törichtes Benehmen gelacht? Darüber, daß er über und über rot geworden war?
Karl Greiner wollte mit sich allein sein. Noch einmal wollte er in Ruhe das Wiedersehen auskosten. Es verlangte ihn nicht, schon die elterliche Wohnung aufzusuchen. Er eilte an die Ufer des Flusses, die mit Bäumen dicht bestanden waren. Am Wasser, auf dem glatten Stamm einer vornübergestürzten Trauerweide, die irgendwann einmal ein Sturm oder das Hochwasser halb entwurzelt hatte, ließ er sich nieder. Ihre dünnen Zweige hingen bis tief über den Wellen. Unter jeder Bewegung seines wuchtigen Körpers schwankte die Krone und kämmte mit ihren Fäden den Fluß. Karl Greiner griff nach der Tabaksbüchse, legte sie geöffnet auf seine Knie und drehte sich eine Zigarette. Der blaue Rauch behängte das Gestrüpp der Weide mit einem zarten Schleier. Greiners Gedanken begleiteten die Frau. Er liebte.
Erst am Abend kam er nach Hause. Die Mutter hatte sein Essen warm zu halten versucht, hatte es in einen Topf geschüttet und ihn in eine zerschlissene Wolldecke gewickelt. Die alte Frau machte ihm wegen des Ausbleibens Vorwürfe. Greiner nahm sie in die Arme und wirbelte mit ihr durch die Küche, daß das Geschirr in den Schränken klappernd mittanzte.
Das Buch „Assistenz“ von Thomas Luthardt erschien 1982 beim Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig.
ASSISTENZ – das ist die poetische Sprech-Stunde des Arztes Thomas Luthardt. Öffentlich und individuell zugleich, ein Gespräch ohne Arztgeheimnis. Prophylaxe und Therapie im lyrischen Wort. Verse als Test und Diagnose… Ein Arzt, der sich Zeit nimmt für uns. ASSISTENZ – das Titelwort, in Schwebe gehaltener Doppelsinn von Beruf und Berufung; Arzt im Selbstversuch, dadurch wohl Vertrauensarzt. ASSISTENZ – ein bemerkenswertes lyrisches Debüt; Freude am Wortspiel und am Phantastischen, sprachliche Präzision, besondere Subjektivität.
ASSISTENZ
Schweißbäche zwischen Haut und Hemd.
Geruch von Verbranntem. Und Blut.
Das klebt noch zu Haus an den Fingern.
Mit schierem Fleisch ging ich um,
nun möchte ich selbst aus dem Leder.
Kürzen zum Kern Körper und Sätze.
Unter dem Messer liegt auch die Zeit.
Sorgfältig, Schicht um Schicht,
halt ich die Wunden offen.
VERNISSAGE
Fremde. Ein paar
Freunde. Kaum
Aufgeregt abseits
Der Maler. Stört
Weiter nicht. Dann,
Zwischen Rede und Rotwein,
Überkommt ihn die Angst,
Seine Bilder würden
Hier verstanden.
„Die Schlacht auf dem Kapaunsee“ von Martin Meißner. erschien 1976 im Kinderbuchverlag Berlin.
Einmal im Jahr stehen sich die Jungen der Dörfer Siedenstave und Böddenthin gegenüber, um sich mit Trögen und Holzfässern auf dem Wasser des Kapaunsees zu bekämpfen. Sieger ist das Dorf, das die Flotte der anderen an das eigene Ufer zurückgedrängt hat. Hundert Jahre und mehr ging das schon. Mit wechselndem Erfolg. Nun aber gibt es zwischen den Bauern in den Dörfern einen handfesten Streit, an dem Thomas‘ Vater maßgeblich beteiligt ist. Was man in dieser dramatischen Lage nicht braucht, ist die Schlacht auf dem Kapaunsee. Für Thomas eine herbe Enttäuschung.
Hier ist eine spannende Leseprobe:
Aber nun wird es für Thomas Zeit. Er schwingt sich auf das Rad, und ab geht es die Achterstraße hinunter nach Böddenthin zu.
Wer ist es, der dort aus dem Dorfe jagt, werden die Bäuerinnen auf den Feldern fragen. Das kann nur der Junge von Marteloks sein. Ja, ja, werden sie denken. So wie der rast kein zweiter.
Schon von weitem sieht er, dass Kirstin auf ihn wartet. Sie hockt auf dem Boden, hat ihr Gesicht in die Hände gelegt, die sie wie eine Schale hält, und schaut auf den Stein.
Als ob er ihr etwas erzählt, denkt Thomas.
Der Stein ist sein Freund. Wenn er nach Böddenthin fährt, dann hält er oft bei ihm an. Dann streicht er über seinen alten braunen Rücken. Dann kommt es vor, dass der Stein von früheren Zeiten erzählt. Von dem Streit zwischen den Dörfern Siedenstave und Böddenthin, von der Schlägerei am Kapaunsee, von den Dorfversammlungen, die um ihn herum abgehalten wurden, und davon, wie ihn die jungen Burschen, allen voran Alfred Martelok, aus dem Dorf geschleift haben.
Der Stein kann aber auch geduldig zuhören. Er fragt nicht dauernd, und er will auch nicht für alles eine Erklärung.
Hätte ich Kirstin das Geheimnis nur nicht anvertraut, denkt Thomas jetzt. Der Stein hat es nicht gern, wenn man ihn fragt. Man darf nicht neugierig sein wie die Mädchen. Man muss Zeit haben und ihn in Ruhe lassen, wenn er einmal nicht gesprächig ist. Er ist alt und launisch, und wenn sie ihn verärgert, habe ich dann meine liebe Not mit ihm.
Und so tritt er in die Pedale, dass die Kette klagend aufstöhnt.
"Man lässt eine Dame nicht warten", schmollt Kirstin, als Thomas heran ist und sein Rad gegen einen Baum stellt.
Trotz dieser unfreundlichen Begrüßung kann er sich nicht ärgern. Der Köster aus Böddenthin hat wirklich eine hübsche Tochter. Besonders wenn sie wütend ist und den Pferdeschwanz so pendeln lässt.
"Ich hatte zu tun. Einer kann nicht in der Weltgeschichte herumstreunen, wenn er die Schule ernst nimmt. Man muss hinterher sein. Es wird viel verlangt heutzutage", sagt er.
Das Mädchen muss lachen, obwohl ihr Zorn noch nicht verflogen ist. Wenn sie dem Thomas Martelok auch manches zutraut, aber solche Wandlung ist ausgeschlossen. Außerdem sehen die teerigen Hände nicht danach aus.
"Du hast das Boot dicht gemacht", sagt sie und presst ihre Lippen fest zusammen.
Das hat sie von ihrem Vater. Solch einen schmalen Mund macht er, wenn die Mathematikberichtigung nicht in Ordnung ist oder eine Unterschrift auf sich warten lässt.
"Ja, ich habe kalfatert, bitte sehr."
Könnte sich den Ausdruck ruhig einmal merken, denkt er.
"Dann soll sie also wieder stattfinden, die Schlacht?", fragt sie.
"Es war nie anders.·Jedes Jahr zu Pfingsten haben wir die Schlacht."
Kirstin ist hergekommen, um mit Thomas über die Seeschlacht zu sprechen, die einmal jedes Jahr auf dem Kapaunsee stattfindet. Die Jungen aus Siedenstave und Böddenthin bekämpfen sich von Flößen und Brühtrögen aus, bis die eine Partei an das Ufer getrieben ist. Manches Mal geht das nicht ohne Beulen und einen Kratzer ab.
Die Schlacht auf dem Kapaunsee ist der Rest eines alten Streites, der jahrhundertelang zwischen Siedenstave und Böddenthin bestand.
Der Stein hat gelegentlich davon erzählt:
"Wenn sie sich mit ihren Fuhrwerken begegneten, dann grüßten sich die Bauern nicht einmal. Und die jungen Burschen, sie schlugen sich bei jedem Tanz. Eine Hochzeit gab es nie zwischen jungen Leuten aus Siedenstave und Böddenthin."
Der Lehrer Döbbelin will Schluss machen mit dem alten Spuk. Aber verbieten kann man so etwas nicht. Die Jungen müssen es selbst begreifen. Kirstin ist sein Diplomat, sein Unterhändler gewissermaßen.
Und sie nimmt ihren Auftrag ernst.
"Es gibt keine Feindschaft mehr zwischen den Dörfern", sagt sie erregt. "Im Gegenteil! Sie arbeiten zusammen in der Kooperation."
Aufrecht steht sie da. Sie erscheint Thomas viel größer als sonst.
"Die Schlacht ist eine alte Tradition", verteidigt er sich.
"Aber eine schlechte. Die brauchen wir nicht."
"Sie ist nicht schlecht. Es ist nicht anders als Fußball und Eishockey."
Auf Thomas hat Kirstin ihre ganze Hoffnung gelegt. Wenn er nicht mehr mitmacht, werden auch die anderen nach und nach vernünftig. Aber ihre Mühe ist vergebens.
"Dann brauchst du nie wieder zu uns zu kommen", sagt sie, während Sie schon ihr Rad aufnimmt.
"Das sagt wohl dein Vater?", fragt Thomas.
"Nein, das sage ich."
"Ich habe auch gar keine Lust mehr! Ihr könnt euch euer Meerschwein an die Hutkrempe heften. Und das Schmalfilmdings dazu!", ruft er ihr nach.
Dunkle Wolken ziehen auf über dem Kapaunsee. Kirstin fährt ab, ohne sich noch einmal umzusehen.
Ich sehe fern, denkt Thomas. Da kriege ich die ganze Welt ran und nicht nur ein Stückchen von Döbbelins Garten mit einem Mädchen darin, das einem die Seeschlacht vergraulen will. Nein, nicht mit mir! Und mein bisschen Gesicht kann ich mir auf dem Foto ansehen, das Guntrada Miersch auf der Fahrt ins Heimatmuseum gemacht hat, dazu brauche ich keine Schmalfilmkamera. Ja, die Guntrada, die ist schon ein passables Mädchen. Und fotografieren kann sie.
Thomas nimmt sein Rad. Er sieht nicht einmal mehr nach seinem Freund, dem Stein. Ohne zu treten, lässt er sich nach Siedenstave hineinrollen. Einige Frauen kommen von den Feldern, und sie sehen aus, als hätten sie graue Masken auf.
Das kann doch nicht der Thomas Martelok sein, der dort so langsam entlangstuckert, werden sie denken.
Zu Hause geht er bald auf sein Zimmer.
"Ich muss noch Mathematik lernen!", ruft er zur Mutter hinunter, die noch in der Küche zu tun hat.
Die Mutter freut sich, dass der Junge die Schule auf einmal so ernst nimmt.
Thomas weiß, dass er nun ungestört bleibt, und beugt sich über den Schlachtenplan.
„Die Feuerfontäne“ von Martin Meißner erschien erstmals 1977 im Kinderbuchverlag Berlin.
Das sagenumwobene Dorf Holligau im Mecklenburgischen gerät in Unruhe. El Campo, sein sowjetischer Kollege Jegor Iwanowitsch und andere Spezialisten bohren nach Erdgas. Die Einwohner Holligaus beobachten das lärmende Treiben der einziehenden Technik anfangs nicht gerade wohlwollend. So hat es der Junge Lüder Belling nicht leicht. Einerseits möchte er die lieb gewordenen Flecken um Holligau — vor allem die Reiherkolonie — vor den rauen Bohrleuten schützen. Andererseits: diese Fremden wollen ebenso wie Lüder und Vater Hotopp den einäugigen Riesen vom Buerkamp bezwingen. Und da ist auch noch die Großmutter, die dem ganzen Treiben auf dem Buerkamp mehr als skeptisch zuschaut.
Hier ist die Leseprobe des Buches, das die jungen Leser sofort in seinen Bann ziehen wird:
Wie Lüder nun gerade das Meer der Muschelkalksteinzeit vor sich schimmern sieht und die Krone in seinen Gedanken den Grund des Bohrloches bald erreicht hat, wird er aus seinen Träumen geweckt.
Jegor Iwanowitsch ist ans Bohrloch herangetreten und hat die Eisenplatte zur Seite gezogen.
Da wird auch Salamanders versteinertes Gesicht lebendig. Er geht auf die Öffnung zu. Nicht überhastet, aber mit seinem zielstrebigen Schritt, mit dem er sonst durch die Feldmark streift.
Wie gebannt starrt er nach unten. Bis wohin sein Blick wohl reicht, denkt Lüder. Er selbst erkennt nur ein Stück der Verrohrungswand, die sich bald in der Finsternis der Tiefe verliert.
„Wie tief geht es da hinein?“, fragt Salamander nach einer Weile, an Jegor Iwanowitsch gewandt.
„Die Sohle liegt in dreitausendzweihundert Meter Tiefe“, antwortet der Mann.
Über Salamanders Gesicht huscht ein kurzes triumphierendes Lächeln, als hätte er selbst der Erde einen Streich gespielt.
Aber damit scheint er genug gesehen zu haben. Er wendet sich ab und geht die eiserne Treppe hinunter.
Da gerade Schichtschluss ist, können die beiden Jungen mit dem Kübelwagen ins Dorf zurückfahren.
Alle Mitfahrer müssen hinten aufsteigen, denn der Platz neben dem Chauffeur ist bereits belegt. Struppi hat sich dort breitgemacht. Die Hinterpfoten auf dem Polster, die vorderen auf der Verkleidung neben dem Armaturenbrett. Als Jegor Iwanowitsch den Motor anlässt, wedelt sie verzückt mit dem Stummel ihres Schwanzes.
Die ganze Fahrt über wendet sie den Blick nicht von der Straße, als lenke Sie das Auto selbst. Lüder und Salamander interessieren sie jetzt nicht.
Als im Wohnlager alle abgestiegen sind, bleibt Salamander noch einen Augenblick neben Jegor Iwanowitsch stehen.
„Ich denke, Sie haben mich herbestellt, damit Sie mich wegen der Schule bearbeiten“, sagt er.
„Nein, das nicht“, antwortet der Mann. „Du solltest nur mal einen Blick in den Erdenschlund tun.“
Darauf zieht Salamander wie gewöhnlich seine Schultern hoch. Ohne sich zu verabschieden, geht er davon.
Jegor Iwanowitsch freut sich, dass es nicht zu der Aussprache gekommen ist, um die ihn die Lehrerin gebeten und die er ihr auch versprochen hat.
Nur weiß er nicht, welchen Bescheid er ihr geben soll.
„Er hat in das Bohrloch geschaut und dabei gelacht“, wird er sagen können.
Aber ob sie das versteht?
Und schon ist der erste Monat des noch neuen Jahres fast Geschichte. Zuvor aber sollten Sie sich die die heutigen fünf Sonderangebote gut anschauen, die spannende Rückblicke von der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis in die siebziger und achtziger Jahre bieten. Besonders hervorzuheben ist der erste Band des großen Romanzyklusses von Erik Neutsch, dem er den programmatischen Titel „Der Friede im Osten“ gegeben hatte. Was würde wohl Neutsch zu den aktuellen Entwicklungen in Deutschland, speziell in den neuen Bundesländern, sagen?
Und auch der Hinweis auf seine „Bitterfelder Geschichten“ sei zum Schluss des heutigen Newsletters noch einmal wiederholt.
Kommen Sie gut in den Februar, bleiben Sie vor allem schön gesund und munter und der Welt der Bücher gewogen.
In der nächsten Woche stehen erneut auch zwei Bücher von Erik Neutsch im Angebot, darunter der Sammelband „Heldenberichte. Erzählungen und kurze Prosa “ aus dem Jahre 1976, in die er auch seine „Bitterfelder Geschichten“ noch einmal aufgenommen hatte. Was versteht der Autor unter dem Begriff Helden? Arbeiter sind es vor allem, die Neutsch in den Mittelpunkt seiner Geschichten rückt, oder Vertreter solcher Schichten, die gemeinsam mit der Arbeiterklasse gehen. Und es sind sehr verschiedene Helden, die er hier beschreibt. Lesenswert. Auch heute noch.
EDITION digital war vor 29 Jahren ursprünglich als Verlag für elektronische Publikationen gegründet worden. Der Verlag gibt Krimis, historische Romane, Fantasy, Zeitzeugenberichte und Sachbücher (NVA-, DDR-Geschichte) sowie Kinderbücher als barrierefreie E-Book heraus, einige auch als Hörbuch. Ein weiterer Schwerpunkt sind Grafiken und Beschreibungen von historischen Handwerks- und Berufszeichen sowie Belletristik und Sachbücher über Mecklenburg-Vorpommern. Bücher ehemaliger DDR-Autoren werden als E-Book neu aufgelegt. Insgesamt umfasst das Verlagsangebot, das unter www.edition-digital.de nachzulesen ist, mehr als 1.300 Titel. Die Printsparte des Verlages war Ende vergangenen Jahres von Ralf Jordan vom Geschichtlichen Büchertisch als Imprint übernommen worden.
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