Wolf Andreas Liebert: Graswurzelglaube
Über neue Formen des Religiösen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft
Kösel-Verlag, München 2024
176 Seiten
Hardcover: 20,00 Euro.
E-Book: 12,99 Euro
ISBN-10: 3466373239
ISBN-13: 978-3466373239
Wir leben in einer postsäkularen Gesellschaft, meint der bekannte Philosoph Jürgen Habermas. Denn trotz des feststellbaren Bedeutungsverlustes organisierter Religion wächst eine unorganisierte, unausrottbare Form von Spiritualität, die uns zwinge, das Verhältnis von Religion und Wissenschaft neu zu bestimmen. Der Religionslinguist Wolf-Andreas Liebert nennt dieses unübersichtliche und wildwuchernde Gebiet neuer religiöser Strömungen „Graswurzelglauben“.
Dabei geht er nicht von den beiden gegensätzlichen Polen Spiritualität und Rationalität aus, sondern sieht den Themenkomplex vielmehr als ein Spektrum, in dem sich spirituelles Eingebundensein und atheistische Religionskritik nicht ausschließen. Lieberts Grundanliegen ist es, diesen unterschiedlichen Strömungen mit allgemeiner Wertschätzung zu begegnen.
Der Graswurzelglaube gedeiht in einer kaum überschaubaren „Zahl informeller, religiöser Netzwerke und Zirkel, die ein spirituelles Leben in weitgehender Unverbindlichkeit ermöglichen“ (S. 15). Es herrsche die so genannte Selbstermächtigung des religiösen Subjekts, bei der sich die Menschen ihren Glauben selbst zusammenpuzzeln. Im Zentrum dieser spirituellen Erfahrung stünden subjektiv erlebte Transzendenzerfahrungen, in deren Folge sich die Betroffenen als „Erwachte“ bezeichneten und nicht selten als spirituelle Lehrer aufträten. Liebert betrachtet diese Entwicklungen soziologisch und zeigt Verbindungen zum Buddhismus, zur Politik und in der Vermischung von wissenschaftlichem und spirituellem Denken auf.
Zum Buch
Auf 176 Seiten mit Vorwort und Anmerkungen nähert sich der Sprach- und Kulturwissenschaftler von der Universität Koblenz dem Thema in sieben Kapiteln. Dabei spannt er einen weiten Bogen von der Wiederkehr des Religiösen über das spirituelle Phänomen der Erleuchtung und des Erwachens bis hin zu den Mischformen, die Religion und Politik eingehen. Die Netflix-Serie Manifest wird als eingängiges Bild für das Erwachen ebenso herangezogen wie Platons Höhlengleichnis oder die Erleuchtung Buddhas. Auch moderne Prominente werden beispielhaft genannt, sei es der amerikanische Geistliche John Hagee, der Comedian Bülent Ceylan oder der Science-Fiction-Autor Philip K. Dick. Aber auch die Vermischung von Erleuchtung mit Drogenkonsum, Wahnvorstellungen und anderen religiösen Fantasien wird thematisiert.
Besonders ausführlich sind die Feldbeobachtungen in Kapitel vier über das Erwachen, die der Autor im Selbstversuch während des Retreats „Jetzt oder nie!“ mit der spirituellen Ikone Eckhart Tolle gesammelt hat. Tolle wird dabei als Sinnbild für die aktuelle spirituelle Szene der Gegenwart gesehen, die es geschickt versteht, das „Jetzt“ als Ideologie auszubeuten. Durch eine pathologisierende Metaphorik werde ein allgemeines Unbehagen an der modernen Gesellschaft erzeugt, das ohne eine politische Analyse der Herrschaftsverhältnisse schnell abstrakt wirke und in Verschwörungstheorien abdrifte. Auch bestehe in dieser Szene die Gefahr, durch eine Kultur der Selbstermächtigung die eigenen Vorstellungen als Norm für die Gesellschaft zu sehen und autosuggestive Aggressionen zu entwickeln. Dies begünstige die Entwicklung von „Konspiritualität“ – einer Mischung aus „conspiricy“ und „spirituality“.
Kapitel fünf befasst sich mit der unheilvollen Vermischung von Religion und Politik. Politisches Erwachen und Sendungsbewusstsein mit extremistischen Haltungen sind in jeder Gesellschaft höchst problematisch. Kapitel sechs wendet sich der Naturspiritualität zu, die für das verstärkte ökologische Engagement der Moderne verantwortlich gemacht wird. Im letzten Kapitel zeigt der Autor Verständnis für den kulturübergreifenden Versuch, Absolutheitserfahrungen religiös zu deuten, um einer letztgültigen Wahrheit näher zu kommen. So gesehen stiftet Religion Sinn und tut dem Menschen gut, auch wenn er dem Atheismus den gleichen Deutungsanspruch zubilligt. Liebert schließt mit einem Plädoyer für Religionsfreiheit und eine tiefe Toleranz, die unterschiedliche Letztbegründungen als gleichberechtigt akzeptiert, damit unsere Gesellschaft lebendig und produktiv sein könne.
Zum Punkt
Kurzweilig und pointenreich legt Liebert seine Beobachtungen und Ansichten dar. Das Wort Esoterik wird dabei vermieden, da es einen negativen Beigeschmack hat. Der Autor möchte den echten und aufrichtig Suchenden von den Spinnern und Verrückten der New-Age-Bewegung trennen und keine wissenschaftlich fundierte Religionskritik betreiben (S. 103). Welchen Bewertungsmaßstab er dabei anlegen will, bleibt allerdings offen. Allzu oft macht das subjektive Erleben eine objektive Betrachtung unmöglich und vieles aus dem weiten Feld der modernen Spiritualität erscheint einem rational denkenden (oder biblisch orientierten) Menschen einfach nicht nachvollziehbar. Ebenso kritisch sind die Selbstermächtigungstendenzen der Szene zu sehen, die einen undemokratischen und bisweilen anarchischen Touch haben.
Das Buch versteht sich grundsätzlich als soziologischer Beitrag. Deshalb wird Glaube auch nicht theologisch verstanden und die Bibel nur einmal direkt zitiert. Mit der Untersuchung von Sprachhandlungen im spirituellen Bereich leistet der Autor jedoch einen interessanten Beitrag zum Verständnis religiöser Vollzüge in der Moderne. Die Beobachtungen zur Naturspiritualität, die von einem leisen Pantheismus über die Wiederbelebung von Naturgeistern, Druiden- und Wicca-Kulten bis hin zum Neoschamanismus reichen, lassen den Kulturwissenschaftler zu dem Schluss kommen: Diese „dunkelgrüne Religion“ mit ihren spontan empfundenen Momenten der Heiligkeit, der privaten Offenbarung und der Verklärung der Mensch-Tier-Begegnung sei auf dem Weg, „einmal so bedeutsam zu werden wie das Christentum“ (S. 143). Ob sich dieses Orakel bewahrheitet, bleibt abzuwarten, doch schon heute lässt sich sagen, dass Wissenschaft, Religion und Spiritualität im Zeitalter des Postsäkularismus immer enger zusammenrücken.
Die Rezension kann unter diesem Shortlink als Dokument heruntergeladen werden: https://tinyurl.com/48z9cyzv
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