Der AOK-Bundesverband hat heute sein Positionspapier zur Bundestagswahl am 26. September veröffentlicht. Unter dem Titel „Neue Nähe“ fasst es die zentralen Forderungen der AOK-Gemeinschaft an die Gesundheitspolitik der nächsten Bundesregierung zusammen. Unter anderem fordert die AOK eine stärkere Koordination und Kooperation der Akteure jenseits der Sektorengrenzen des Gesundheitswesens, eine stärkere Qualitätsorientierung in der Versorgung und eine nachhaltige Stabilisierung der GKV-Finanzen.

„Wir stehen aktuell unter einem historischen Handlungsdruck“, sagt der Aufsichtsratsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes für die Arbeitgeberseite, Dr. Volker Hansen, anlässlich der Vorstellung des Positionspapiers. „Noch vor Kurzem gab es in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung solide Finanzen, jetzt haben wir sieche Finanzen.“ Diese aktuellen Probleme seien weniger durch die Pandemie als durch die Gesetzgebung von Gesundheitsminister Jens Spahn in den letzten vier Jahren verursacht worden. „Die Politik hat das Geld der Beitragszahler mit vollen Händen ausgegeben“, so Hansen. Gleichzeitig habe die Große Koalition aber vergleichsweise wenig Nutzen für die Versicherten und Patienten gestiftet. Wichtige Reformen im Krankenhaus-Bereich oder in der Pflege seien liegen geblieben. „Zudem haben wir durch die gesundheitspolitischen Entscheidungen der letzten vier Jahre eine beispiellose Schwächung der Handlungs- und Leistungsfähigkeit der GKV gesehen“, kritisiert Hansen. Die Gestaltungsspielräume der Selbstverwaltung seien durch staatliche Eingriffe massiv eingeschränkt worden. „Diese Eingriffe aus der aktuellen Legislaturperiode müssen revidiert werden“, fordert Knut Lambertin, alternierender Aufsichtsratsvorsitzender für die Arbeitnehmerseite. „Insbesondere ist die Wiederherstellung der vollständigen Haushalts- und Beitragssatzautonomie der gesetzlichen Krankenkassen notwendig.“ Zudem werde sich die Soziale Selbstverwaltung dafür einsetzen, dass der Wettbewerb der Krankenkassen um die beste Versorgung für die Versicherten wieder gestärkt werde.

„Neue Nähe heißt für uns nicht nur räumliche Nähe, schnelle Erreichbarkeit der Gesundheitsversorgung oder zeitnahe Behandlung. Das Motto steht vielmehr für die konsequente und umfassende Orientierung an den Bedürfnissen der Versicherten“, erläutert der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, den Titel des Positionspapiers. Das 30-seitige Programm der AOK zur Bundeswahl enthalte zahlreiche konkrete Umsetzungsvorschläge aus allen Bereichen der Gesundheitspolitik – unter anderem zur Reform der Notfallversorgung, zur stärkeren Nutzung der elektronischen Patientenakte, zur Reform der Arzneimittel-Preisbildung oder zur Weiterentwicklung der Patientenrechte.    

AOK schlägt „3+1-Gremium“ zur Überwindung der Sektorengrenzen vor

Ein zentrales Thema des Positionspapiers ist die Überwindung der Sektorengrenzen. Um diese voranzubringen, schlägt die AOK-Gemeinschaft auf Landesebene die Einrichtung eines „3+1-Gremiums“ vor. Es soll mit Vertreterinnen und Vertretern der Kassenärztlichen Vereinigungen, der Landeskrankenhausgesellschaften und der Krankenkassen besetzt werden – ergänzt um Vertreterinnen und Vertreter des jeweiligen Bundeslandes als Unparteiische. Dieses 3+1-Gremium soll den Sicherstellungsauftrag übernehmen, den Versorgungsbedarf vor Ort definieren und ganz unabhängig von den Sektoren entsprechende Versorgungsaufträge an Kliniken, Medizinische Versorgungszentren und Arztpraxen vor Ort vergeben, die am besten dafür geeignet sind – auf Basis von regionalen Verträgen. „Dieses Modell bringt die Vernetzung voran und schafft gleichzeitig den Rahmen für den Aufbau regionaler, interprofessionell besetzter Gesundheitszentren“, betont AOK-Vorstand Litsch. „Wenn Kassen, Landeskrankenhausgesellschaften, KVen und nicht zuletzt die Länder hier an einem Strang ziehen, schafft das neue Nähe und einen konstruktiven Modus, gemeinsam bedarfsgerechtere Entscheidungen für eine gute Gesundheitsversorgung zu treffen.“

Stationäre Leistungen an geeigneten Standorten bündeln

Im Krankenhaus-Bereich fordert die AOK, dass die Versorgung bei speziellen, planbaren Operationen besser vernetzt und gesteuert wird. „Wir setzen uns dafür ein, dass Strukturvorgaben und Mindestmengen ausgeweitet und noch besser umgesetzt werden“, so Litsch. „Die entsprechenden Rahmenbedingungen sollte der G-BA schaffen – und die Bundesländer sind dann gefordert, auf dieser Basis und in Abstimmung mit dem 3+1-Gremium differenzierte regionale Versorgungsaufträge für die Kliniken zu entwickeln.“ Stationäre Leistungen sollten an dafür geeigneten Standorten zusammengeführt werden. Diese regionale Bündelung und Konzentration spezialisierter Leistungen sichere auch den effizienten Einsatz des Personals und schaffe damit bessere Arbeitsbedingungen für medizinisches Personal und Pflegekräfte. „Wir erreichen neue Nähe, indem wir ambulante Angebote und regionale Gesundheitszentren ausbauen. Dieser integrierte Ansatz schafft eine bessere Versorgung als schlecht ausgelastete und ausgestattete Krankenhäuser“, so Litsch. Die Erfahrungen aus der Pandemie hätten gezeigt, dass man gerade in Krisensituationen nicht weniger, sondern mehr Spezialisierung und Zentralisierung von Krankenhaus-Leistungen brauche. „Neue Nähe heißt in diesem Fall, dass Patentinnen und Patienten nicht im nächstbesten Krankenhaus landen, sondern in dem, das bezüglich Ausstattung, Routine und Knowhow am nächsten dran ist an einer optimalen Versorgung.“

Einigkeit über enorme finanzielle Herausforderungen für Kranken- und Pflegeversicherung

Zur Finanzperspektive der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung äußerte sich der stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Jens Martin Hoyer: „Es herrscht aktuell eine große Einigkeit unter den gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen, dass wir ab dem nächsten Jahr vor enormen finanziellen Herausforderungen stehen.“ Schon Ende dieses Jahres werde das Vermögen der GKV weitgehend aufgebraucht sein. Auch die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds verfüge nur noch über die gesetzliche Mindestreserve. „Aktuell gehen wir allein für 2022 von einem zusätzlichen Finanzdefizit von bis zu 17 Milliarden Euro in der GKV aus, das über die Zusatzbeiträge beglichen werden müsste“, so Hoyer. Rein rechnerisch bedeute das einen Sprung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes von 1,3 auf 2,4 Prozent. Man begrüße daher die Absicht der aktuellen Bundesregierung, den GKV-Zusatzbeitrag bei 1,3 Prozent zu halten. Aber mit der für 2022 bisher zugesagten Erhöhung des Bundeszuschusses um sieben Milliarden Euro lasse sich der drohende Beitragssatzsprung nur auf 1,9 Prozent eingrenzen.

Um das Ziel der Beitragssatzstabilisierung für das kommende Jahr aber zu erreichen, müsste der Bundeszuschuss bis zu den Beratungen des Schätzerkreises im Oktober 2021 nochmals deutlich erhöht werden. „Wenn die amtierende Regierung ihr Versprechen nicht einlösen sollte, muss die kommende Bundesregierung sofort Ordnung in das Finanzchaos bringen, um Beitragserhöhungen zu vermeiden“, so Hoyer.

Für die soziale Pflegeversicherung sieht es laut Hoyer finanziell ähnlich düster aus. Demnach fällt das Defizit im Verhältnis zum Gesamtvolumen dort ähnlich groß aus wie in der GKV. „Hier hat auch die jüngste Pflegereform, die nur minimale Verbesserungen für die pflegebedürftigen Menschen gebracht hat, das Refinanzierungsproblem nochmal verschärft, schon für dieses Jahr droht ein Fehlbetrag von 3,5 Milliarden Euro. Hier müssten die Bundesmittel für versicherungsfremde Leistungen auf Dauer deutlicherhöht werden“, so Hoyer.

Verlässlicher Bundesbeitrag für versicherungsfremde Leistungen und ausgabenwirksame Strukturreformen

Perspektivisch brauche auch die GKV endlich einnahmeseitig einen verlässlichen und auf Basis der Lohnentwicklung dynamisierten Bundesbeitrags für alle versicherungsfremden Leistungen. Insgesamt gehe es um eine klare Abgrenzung der Finanzverantwortung zwischen GKV und Staat und die Stärkung des beitragsfinanzierten Systems, so Hoyer weiter. Dazu zähle vor allem die Anhebung der Krankenversicherungspauschalen für ALG II-Empfänger, die das GKV-Finanzloch um rund neun Milliarden Euro schmälern würde. Auch auf der Ausgabenseite müsse der Finanzdruck in der GKV verringert werden. Hierfür seien unter anderem tiefgreifende und nachhaltige Strukturreformen im Krankenhausbereich und bei der Arzneimittelpreisbildung notwendig.

Weiterentwicklung des RSA im Sinne aller Versicherten

Für den Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen fordert Hoyer eine Weiterentwicklung im Sinne aller Versicherten. In der Wissenschaft sei unstrittig, dass sogenannte vulnerable Gruppen einen schlechteren Gesundheitszustand und einen höheren Versorgungsbedarf aufwiesen. Dazu zählten Personen mit geringem Einkommen oder einer geringen Rente, Bezieher*innen von Grundsicherung, Hilfe zum Lebensunterhalt oder ALG II, Pflegebedürftige sowie in besonderem Maße Menschen, bei denen mehrere dieser Faktoren mit chronischen Erkrankungen zusammenkommen. „Gerade bei diesen Versicherten zeigt sich ein systematischer Weiterentwicklungsbedarf im RSA, weil die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds die Ausgaben der Krankenkassen nicht decken. Damit bestehen erhebliche Risikoselektionsanreize insbesondere zulasten sozialpolitisch schutzbedürftiger und vulnerabler Menschen und Personengruppen. Hier besteht für die kommende Bundesregierung dringender Handlungsbedarf.“

Die AOK-Gemeinschaft sieht außerdem Korrekturbedarf am eingeführten Regionalausgleich. In der aktuellen Umsetzungsform sei die sogenannte Regionalkomponente nicht zielkonform, setze negative Wirtschaftlichkeitsanreize insbesondere zu Lasten der ländlichen Regionen und zementiere auch nach Ausschluss angebotsseitiger Merkmale bestehende Strukturen der Über-, Unter- und Fehlversorgung. Die AOK-Gemeinschaft plädiert für eine zielgerichtete Weiterentwicklung der Regionalkomponente, damit diese problematischen Effekte verhindert werden.

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