Wohin mit einem großen schwarzen Hund, der nicht in eine Neubauwohnung passt? Denn die ist für das Tier zu klein. Allerdings ist „Nepomuk“, wie er bald genannt werden wird, sehr zutraulich. Eine Antwort auf diese Frage wird zu Beginn des zweiten der insgesamt fünf aktuellen Sonderangebote verlangt, die wie immer eine Woche lang zum Sonderpreis im E-Book-Shop www.edition-digital.de (Freitag, 09.07. 21 – Freitag, 16.07. 21) zu haben sind – und zwar von Ulf. Aber wer ist Ulf, und wie fällt die Antwort aus? Das ist in dem Kinderbuch „Der Junge mit dem großen schwarzen Hund“ von Hildegard und Siegfried Schumacher nachzulesen.

Eine besinnlich-amüsante Story mit offenem Schluss sowie mit Rück- und Ausblicken präsentiert Wolfgang Schreyer in seiner Erzählung „Das Kurhaus“. Gemeint ist das von Ahrenshoop an der Ostsee.

Ebenfalls von Wolfgang Schreyer stammen die drei „Abenteuer des Uwe Reuss“ – „Die Suche“, „Der Fund“ und „Der Verlust“, alle drei in einem E-Book.

Mit dem Leben und Sterben von Thomas Müntzer befasst sich Hans Bentzien in „Im Zeichen des Regenbogens“.

Und damit sind wir wieder beim aktuellen Beitrag der Rubrik Fridays for Future angelangt. Jede Woche wird an dieser Stelle jeweils ein Buch vorgestellt, das im weitesten Sinne mit den Themen Klima, Umwelt und Frieden zu tun hat – also mit den ganz großen Themen der Erde und dieser Zeit. Heute geht es um Schönheit und Schutz der Natur und darum, wie man auf menschliche Weise mit Tieren umgehen sollte. Gerade weil wir Menschen sind.

Erstmals 1987 veröffentlichte Wolf Spillner im Kinderbuchverlag Berlin „Der Alte vom Hammer. Eine Bilderbuchgeschichte aus den Bergen der Schweiz“: Corinna wird von ihren Mitschülern aus der 3. Klasse beneidet. Ihr Vater ist Wildhüter und nimmt sie oft mit in die Berge. Die Sennen haben gesehen, dass der alte Steinbock lahmt? Wird es so schlimm sein, dass ihn der Wildhüter erschießen muss, weil er mit seiner Verletzung nicht überleben kann? Corinna darf den Vater bei der gefährlichen und anstrengenden Suche nach dem Alten begleiten und bangt um sein Leben. Wolf Spillner bereicherte diese schöne Geschichte mit wunderbaren Fotos. Hier der Anfang dieses Bilder-Buches im übertragenen und besten Sinne dieses Wortes:

Der Alte vom Hammer

Am Abend, als Corinna zu Bett gehen soll, klingelt das Telefon.

„Wer mag so spät noch anläuten“, wundert sich die Mutter.

„Das ist gewiss mein Chef!“ Vater Konrad, der Wildhüter, nimmt den Hörer ab.

„Grüazi“, sagt er, „ja, ja!“ Er nickt und lauscht. Dann schüttelt er den Kopf, und die Falten in seinem braunen Gesicht werden tiefer. Er sieht bekümmert und traurig aus. „Ja“, sagt er noch einmal, „ich steig gleich morgen auf. Ich melde mich dann. Gute Nacht auch!“ Er legt den Hörer zurück.

Es ist still in dem alten Haus zwischen den Bergen, und die Mutter und Corinna sehen den Vater fragend an.

„Morgen muss ich zum Hammer hinauf“, sagt er. „Die Steinböcke sind fortgezogen. Die Sennen wollen gesehen haben, dass der Alte lahm geht. Sicher gab es einen Steinschlag.

„Zu den Steinböcken?“ Corinnas Augen leuchten. „Nimmst du mich wieder mit?“

Der Vater schüttelt den Kopf. „Morgen nicht. Ist zu schwer für dich. Das wird kein Spaziergang. Und vielleicht muss ich den Alten sogar schießen!“

„Nein, nur das nicht! Nimm mich mit, ich kann doch gut klettern!“

„Zu zweit seht ihr mehr“, steht die Mutter ihr bei.

„Na gut“, sagt der Vater endlich und geht noch mal aus dem Haus.

Am Morgen ist es kühl, aber ein blauer Sommerhimmel spannt sich über das Tal. Die Berge haben strahlende Kappen aus Schnee und Eis. Das Eis auf den Gipfeln ist hart und schwer. Es schiebt sich in dicken Gletscherzungen herab. Seit vielen Tausend Jahren schon. Sonne und Regen lecken an den Gletscherenden, und das Eis stöhnt und ächzt. Es spaltet in tiefe Risse auf, aus denen das Schmelzwasser tropft. Die Tropfen sammeln sich zu Bächen, die Bäche vereinen sich, reißen die Steine mit sich und zerreiben die Steine zu Grus. So schneidet das Wasser kleine und große Täler in die Berge.

„Das Wetter ist gut“, sagt der Vater, „und es bleibt auch so!“ Er hat die Eisgipfel lange gemustert. Dann trägt er die Rucksäcke zum Auto, und er verstaut sein Gewehr. Die Mutter winkt ihnen nach, und schon rollen Corinna und Wildhüter Konrad auf der Asphaltstraße an den alten, hölzernen Viehställen vorüber, am Rotten entlang.

Der Fluss rauscht und gurgelt laut. Sein Wasser springt unter einem Riesengletscher hervor, weit über ihrem Dorf Oberwald. Flussabwärts wird er Rhone genannt. Später fließt die Rhone durch das Nachbarland Frankreich, ehe sie breit und mächtig ins Mittelmeer mündet. In der Schule lernt man solche Sachen, zumal Corinna in der dritten Klasse ist. Jetzt aber sind große Sommerferien, und zu gerne begleitet sie den Vater zur Arbeit. Die großen Jungen beneiden Corinna. Wer hat denn einen Vater, der Wildhüter ist, zeigt, wo die scheuen Adler ihr Nest in der Felsenwand haben und wo die stärksten Gämsen ziehen. Und auch Steinböcke hat sie mit ihm gesehen.

Was aber mag mit dem Alten geschehen sein? Er ist doch der beste und stärkste von allen. Corinna grübelt, während der Vater das Auto stumm durch das nächste Dorf steuert. Dort biegt die Straße zur Passhöhe ab, zum Übergang in das Land Italien. Die Straße windet sich zick und zack zwischen den Bergen hinauf. Corinna sieht einmal steile Wände vor sich und dann wieder das Tal, tief unten, mit den alten Holzhäusern. Sie drängen sich um den Kirchturm wie eine Hühnerschar. Oder wie eine Schafherde im Wind und werden immer kleiner, je weiter das Auto die Straße hinaufkriecht.“ Und damit zu den ausführlicheren Vorstellungen der anderen vier Sonderangebote dieses Newsletters.

Erstmals 1981 erschien ebenfalls im Kinderbuchverlag Berlin „Der Junge mit dem großen schwarzen Hund“ von Hildegard und Siegfried Schumacher: Als Ulf dem großen schwarzen Hund begegnet, schließt er ihn sofort in sein Herz. Nepomuk nennt er das zutrauliche Tier – und nimmt es mit nach Hause. Doch in der kleinen Neubauwohnung kann der große Schwarze nicht bleiben …

Um Nepomuk zu retten, weiß Ulf eines Tages keinen anderen Ausweg mehr, als mit ihm zu fliehen. Unterwegs lernt er den alten Oscar kennen, einen kauzigen, gutmütigen Mann, der vor der Stadt in einer Laube wohnt. Oscar ist bereit, Nepomuk aufzunehmen, aber er stellt Bedingungen. Diese Abmachungen haben es in sich, sind für Ulf gar nicht so einfach zu erfüllen. Eine aufregende Zeit beginnt für den Jungen. Dann kommt ihm auch Sabine noch auf die Schliche – aber das ist eigentlich etwas recht Erfreuliches.

Unter dem gleichnamigen Titel wurde das Buch 1986 von der DEFA mit Kurt Böwe als Oscar und Niels Anschütz als Ulf verfilmt (Regie: Hannelore Unterberg). Im Übrigen ist in dem Film auch Liedermacher Gerhard Schöne in einer Nebenrolle als Musiker zu sehen. Zudem singt er das Titellied „War mal ein Hund, ein großer“. Und so beginnt die Freundschaft zwischen Ulf und Nepomuk – mit einem offenbar etwas mulmigen Gefühl:

Der Schwarze

Ulf verspürte zuerst Angst, als der große Schwarze auf ihn zukam, und dachte einen Augenblick lang daran, wegzulaufen. Dann dachte er, dass es sinnlos wäre, und blieb stehen, und als der Schwarze dicht vor ihm stoppte, nahm Ulf all seinen Mut zusammen und sagte: „Na, Alter?“

Sicher hätte der Schwarze dasselbe erwidert. Nur können Hunde nicht reden. Er wedelte mit dem Schwanz. In der Hundesprache könnte das: Na, Alter! heißen, aber vielleicht hieß es auch gar nichts und zeigte einfach die Freude an, die der einsam vor sich hin Trottende für das freundliche Wort empfand.

„Na, komm schon, komm“, sagte Ulf, und er streichelte den Hund.

Dem Schwarzen schien das zu gefallen. Er begann Ulfs Knie zu belecken. Ulf störte es nicht, und um sich mit dem Hund näher bekanntzumachen, fragte er: „Wie heißt du denn?“

Klar, die Frage verfehlte ihren Zweck. Selbst bei einem schwerhörigen Regenwurm wäre der Erfolg nicht geringer gewesen. Ein Hund ist aber keinesfalls dumm. Er merkt, dass mit ihm gesprochen wird. Sofort bemühte sich der Schwarze, seine Dankbarkeit noch spürbarer zu machen, und leckte aktiver, doch nun Ulfs anderes Knie.

„Ist ja gut“, sagte Ulf und blinzelte dem Hund zu. Der blinzelte zurück.

„Du bist mir schon einer“, sagte Ulf und legte ihm beide Arme um den Hals. Der Schwarze schmiegte sich an, als wäre er froh, nicht länger allein zu sein. „Bist du auch neu hier?“, fragte Ulf, und er erzählte, dass er erst vor drei Tagen mit seinen Eltern ins Neubauviertel gezogen sei. Lange haben sie davon geschwärmt: Junge, eine neue Wohnung, immer warmes Wasser aus der Wand und Fernheizung, und du, du kriegst dein eignes Zimmer. Alles war prompt eingetroffen.

Und trotzdem! Richtig wusste Ulf nicht, was mit ihm war.

Vielleicht lag es an den hohen hellen Häusern mit den langen Balkonreihen, eins wie das andere aussehend, so dass man dort, wo schon Plattenwege und Rasenflächen angelegt waren, glatt Straße und Hausnummer verwechseln konnte. Seinen Block kannte Ulf auf den ersten Blick heraus. Es war der letzte vor der Baustelle. Dort wurden schon die nächsten Blocks hochgezogen. Da war der riesige Kran, der die Bauplatten an die richtige Stelle hob, und da waren die Bauarbeiter. Sie trugen Schutzhelme, und mit dem Kranführer unterhielten sie sich über Sprechfunk. Natürlich hatten Kinder dort nichts zu suchen. Auf einem Schild stand mit Ausrufezeichen zu lesen: Unbefugten ist das Betreten der Baustelle verboten! Die Bauarbeiter aber waren richtige Menschen. Sogar über Sprechfunk ließen sie Ulf mit dem Kranführer reden. Wie der Brigadier hatte er gerufen: Hallo, Franz! Der fragte sofort zurück: Ein Neuer? Und der Brigadier hatte mit: Genau! geantwortet.

„Moderne Technik, verstehst du“, sagte Ulf zu dem Schwarzen, „die Bauarbeiter sind schwer in Ordnung.“

Ulf konnte also nicht behaupten, dass es in Eberswerda langweilig war. Während er den Schwarzen an sich drückte und mit ihm redete, wusste er plötzlich, was ihm fehlte. Andi fehlte ihm und Frank und Ralf auch. Immer hatten sie zusammengehalten, und wer ihnen etwas tun wollte, der sollte nur kommen! Nachmittags hatten sie sich im Wald Buden gebaut oder waren mit ihren Rädern zum Krebssee gefahren, und wenn sie plötzlich mächtigen Hunger oder Durst verspürten, war es von dort bis zu Andis Großmutter nur ein Katzensprung.

„Weißt du, Alter“, sagte Ulf, „sie kocht die beste rote Grütze, die du dir denken kannst. Eine prima Oma.“

Der Schwarze leckte sich die Schnauze. Ulf aber fuhr in Gedanken mit seinen Freunden durch Ranklitz, vorbei an den ein- oder zweistöckigen Häusern, kein einziges glich dem andern, mal über Holperpflaster, mal auf dem Fußsteig, wie es in einem so kleinen Ort fernab von den großen Straßen üblich ist, sie fuhren unterm grünen Dach der Linden- und Rotdornalleen, und bei Eisenschmidt parkten sie ihre Räder und beguckten sich das Schaufenster, ob er neues Angelzeug oder Fahrradspiegel mit extralangem Stiel ausgestellt hatte. Das Neuste legte Eisenschmidt immer ins Schaufenster. Nebenan befand sich die PGH-Metall, wo der Vater gearbeitet hatte, und eine Straßenecke weiter der rote Backsteinbau der Schule mit den Säulen vorm Haupteingang. Und als Ulf an das alles dachte, sehnte er sich nicht nur nach seinen Freunden, sondern noch mehr nach Ranklitz, das über zweihundert Kilometer weit weg war. „Ach, Schwarzer“, sagte Ulf und umarmte ihn noch fester. Als er dessen feuchte Zunge spürte, wurde dem Jungen leichter ums Herz. So schlossen die beiden Freundschaft.

„Ich heiße Ulf“, sagte Ulf. Der Schwarze wedelte mit dem Schwanz. „Also Ulf“, sagte Ulf noch einmal, damit sein neuer Freund es sich fest einprägte. „Und dir gebe ich einen Namen, der zu dir passt.“

Leichter gesagt als getan.

Unmöglich konnte Ulf das große starke Tier Mohrli nennen, eher schon Räuber oder Pirat. Aber nein, es musste ein besonderer Name sein, den nicht jeder Allerweltshund trug. „Was hältst du von Simba?“

Der Schwarze schüttelte sich. „Hast Recht“, sagte Ulf, „ist mehr ein Löwenname.“

Er setzte sich in Bewegung. Der Schwarze blieb dicht neben ihm und stupste ihn mit der Schnauze an, als wollte er sagen: Komm, Kumpel, schneller! Ulf begann zu laufen. Der Schwarze rannte voraus, warf sich mit Schwung herum, raste auf Ulf zu und sprang ihn an. Beinahe hätte er ihn umgeworfen. „Mein lieber Mann“, sagte Ulf, „bist du stark!“

Im selben Moment fiel ihm ein Name ein. Einer, der fremd und gewaltig und geheimnisvoll klang. „Nepomuk“, sagte Ulf, „du wirst Nepomuk heißen!“

Der Schwarze bellte. Sein neuer Name gefiel ihm also. Jedes Mal, wenn Ulf „Nepomuk!“ rief, drehte der Hund sich um, guckte und raste ihm entgegen und ließ sich den Rücken klopfen.

Bald waren sie an der Baustelle angelangt. Der Brigadier stand mitten auf dem Plattenweg, hatte den Schutzhelm nach vorn geschoben und rieb sich das Genick, als täte es ihm weh vom dauernden Emporstarren zum Baukran, der gerade ein Stockwerk fertig aufgesetzt hatte. „Verschnaufpause“, sagte der Brigadier zu Ulf, und als Nepomuk ihn beschnupperte, „ist das deiner?“

„Klar, das ist mein Nepomuk.“ Der Brigadier beugte sich hinunter und kraulte den Schwarzen hinter den Ohren. Plötzlich schallte Franz‘ Stimme aus dem Sprechfunkgerät: „Hallo, ihr da unten!“ Darüber erschrak Nepomuk sehr. Nach seiner Hundeerfahrung sprachen die Menschen mit dem Mund und nicht aus der obersten Brusttasche. Er ließ einen Beller los. Franz lachte und fragte: „Noch ein Neuer, Brigadier?“

„Ein Nachtwächter“, antwortete der, „und stark wie’n Bär.“ Er hielt dem Hund das Sprechfunkgerät hin. „Sag dem Kollegen guten Tag, Nepomuk.“

Der Schwarze kläffte. Als aus der Brusttasche ebenfalls Gebell kam, kroch er knurrend zur Seite. „Na, was hast du denn, Alter“, sagte Ulf, „das ist doch bloß Franz auf dem Kran.“

Egal, Nepomuk war die moderne Technik unheimlich. Er mochte sie nicht, und er hob sein linkes Hinterbein an einem Stapel Großbauplatten. Der Brigadier lachte und Franz aus dem Sprechfunkgerät auch. Nepomuk aber guckte sich nicht mehr um. Er trottete weiter. Ulf rief den Bauarbeitern: „Tschüs!“ zu und lief seinem Hund nach bis dorthin, wo noch keine Baustelle eingerichtet war und die Planierraupen erst vor kurzem so etwas wie eine Wüste hinterlassen hatten.

Immer wieder zu Ulf zurückkehrend, jagte Nepomuk über die öde Fläche. Hinter ihm stiebten Staubwolken auf. Es war wie in der Sahara. Ulf wanderte durch den tiefen Sand, und Nepomuk, sein treuer Gefährte, suchte ihm den Weg zur nächsten Oase. Die Sonne stach, die Kehle brannte vor Durst. Vielleicht würden sie es nie schaffen.“

Erstmals 2002 erschien im BS-Verlag Rostock Angelika Bruhn die Erzählung „Das Kurhaus“ von Wolfgang Schreyer: Das Ahrenshooper Kurhaus, Baujahr 1970, war einst begehrtes Urlaubsziel. Seit neun Jahren verfällt es zur gespenstischen Ruine. Die will der Eigner durch ein Grand Hotel ersetzen, wie es das Dorf noch niemals kannte. Wird es jetzt zum Modebad, zum Sylt des Ostens werden? Wolfgang Schreyer, seit langem hier ansässig, blickt zurück auf die Künstlerkolonie, auf das alte Kurhaus, seine Gäste und deren skurrile Geschichten. Der heutige Streit (2002), genau erzählt, füllt diesen packenden Bericht mit Zeitgeist: Wie meistert man das Leben und findet auch sein Glück? Eine besinnlich-amüsante Story mit offenem Schluss. Aber zunächst geht es um etwas anderes:

„Obwohl, dem Sprichwort entgegen,

das Geld nicht auf der Straße liegt,

gibt es Menschen, die’s finden.

Erich Kästner

Bereichert euch!

Louis-Philippe

Der Reichtum gleicht dem Seewasser:

je mehr man davon trinkt,

desto durstiger wird man.

Arthur Schopenhauer

1

Das Theater in Anklam, eine GmbH mit mehreren Spielstätten, hatte mich für zwei Abende verpflichtet. Der Chefdramaturg schrieb mir, er schätze mein letztes Buch. Mich wiederum hatte sein Schneid bei den Vineta-Festspielen des Städtchens Barth verblüfft: ein Auftritt, der fast vergessen ließ, dass Vineta früher nie im Barther Bodden, sondern vor Usedom oder auch vor Wollin vermutet worden war. Übrigens hieß er Piet Oltmanns, recht passend zur Legende; in Maske und Gestik, ja selbst vom Wuchs her gab er den Recken im Lederwams mit Bravour.

Ich fuhr also hin und las dort aus meinen Erinnerungen, schon diesem Haus zuliebe. Von einem Hamburger Magazin nämlich war es übel beschmutzt worden. Dessen Mann hatte sich nicht einmal geschämt, den Namen des rührigen Intendanten – Bördel – billig zu bewitzeln. Dass der Reporter für sein Zeug auch noch den 91er Egon-Erwin-Kisch-Preis zweiter Klasse bekommen hatte, war wirklich die Krone. All das lag zwar schon elf Jahre zurück, doch wir Ostdeutschen, vor derlei Arroganz solidarisch, vergessen so bald keine Kränkung.

Am Ende des Abends galt es wie immer, ein paar Bücher zu signieren. Auch war der übliche Eintrag im Gästebuch fällig – ein Zwang, der mich an Tucholskys Seufzer denken ließ: Er fühle sich, so gedrängt, stets wie jemand, der ins WC gesperrt wird, ohne zu müssen. Da kein würdiger Satz mir einfiel, schrieb ich: „Einen Autor mögen und ihn persönlich kennenzulernen ist wie Gänseleber mögen und die Gans persönlich kennenzulernen“. Der Chefdramaturg, zuständig für den Ablauf, blieb so gefasst wie beim Untergang Vinetas, der sündigen Stadt.

An seinen Platz rückte eine junge Dame, sehr adrett und mir wohlgesinnt. Sie hatte ganz vorn gesessen, mehrfach zustimmend genickt und mit hilfreichen Fragen die Diskussion belebt. Ihr folgte als Letzter ein junger Mann, hellblond, unruhig wippend und ein Büchlein in der Hand, das keins der meinen war. Und während die Dame, von der ein zarter Duft ausging, sich als angehende Historikerin zu erkennen gab, argwöhnte ich, ihr Hintermann werde mir gleich ein eigenes Werk aufdrängen. Womöglich seine Memoiren, die dann zu lesen sich kaum verweigern ließ.

Die Memoiren? Nein, dazu war er zu jung; ich schätzte ihn auf höchstens dreißig. Eher wohl Lyrik, es schien ja ein dünner Band zu sein. – Seit man bei uns Bücher selbst edieren, wenn auch nicht in nennenswerter Zahl verkaufen kann, mehren sich solche Wünsche. Natürlich lese ich die Texte, oft sind sie voller Lebensmaterial. Verdrießlich aber bleibt es, sie zu begutachten oder dem Verfasser gar Ratschläge zu geben, die ihm schwerlich nützen; hat er doch meist anderes im Sinn. Er sucht Ermutigung, Anerkennung – darin unterscheidet er sich von den Profis nicht.

Mein Denken irrte ab, infolge der ganzen Belastung. Mich beschlich das Gefühl, die Übersicht zu verlieren. Anstatt der Studentin zuzuhören, schielte ich zu dem Büchlein in ihres Nebenmanns Hand. Eine Broschüre eigentlich, in warmem gelbbräunlichem Einband – Chamois, so hieß der Farbton in der Fotokunst früherer Jahre. Da sagte die Historikerin: „An Ihrer Autobiografie, Herr Woelk, hat mir imponiert, dass Sie zugeben, für manches offen gewesen zu sein: bereit zur Anpassung, damals vor fünfzig Jahren. ,Leitet einen, der Schriftsteller sein, also nach oben will, noch der Charakter, die Überzeugung, oder einzig die Situation?‘ So steht’s bei Ihnen, und man liest das nicht alle Tage. Wir sind hierzulande im Verdrängen recht geübt, uns der eigenen Neigung zum Mitläufertum kaum noch halbwegs bewusst.“

„Nun, was meinen Opportunismus betrifft“, sagte ich in dem Empfinden, ihr Charme dämpfe das akademisch Präzise ihrer Rede, „als Neuling im Beruf will man doch Fuß fassen, und das heißt zunächst mal, sich zu arrangieren.“

„Weil das ganze Leben Arrangement ist und Einordnung fordert?“

„Schon, doch in Maßen. Auf das Maß kommt es an. Schließlich muss man sich selber treu bleiben. –“ Wie mich bloß ihrem Zugriff entziehen? „Später, wenn da Erfolg kam, hat man sich freigeschrieben. Da lockte es mehr, den eigenen Kopf durchzusetzen und abzuweichen vom Parteikurs – oder vom Mainstream des politisch Korrekten, wie das heute heißt.“

„Sie meinen, die Kunst lebt von Tabuverletzung?“

„Von Unabhängigkeit. Zensur, und ebenso der Drang nach Verkäuflichkeit, beides sind Fesseln, die sie abstreifen muss.“

„Das heißt, sie geht nicht mehr nach Brot?“

Etwas in mir verspannte sich. Das wurde uferlos, jede Frage zog bei ihr die nächste nach. Zwar war sie so fair gewesen, mir erst jetzt damit zu kommen; dennoch schien sie dabei, mich mattzusetzen. Bisher war ich ganz gut über die Runden gekommen, alles Weitere ging über meine Kraft. – Immerhin, sie merkte es wohl und ließ nach ein paar Floskeln taktvoll von mir ab.

Der Jüngling rückte nach, und zwar mit dem merkwürdigen Eifer, ja der Aufdringlichkeit des eigentlich schüchternen Menschen. Er gab mir ein Kärtchen, das ihn als Partner der Firma Hinrichs + Labusch auswies, ein Consulting-Büro. Es hatte etwas mit Firmenberatung und Werbung zu tun, die Sache war zu verzwickt für den Moment des Aufbruchs. Dabei zögerte Hinrichs, mir sein Werk zu unterbreiten, obgleich ihn ein Schulterzucken plagte, als Spannungssignal. Es war beklemmend; all sein Gerede diente nur der Anbahnung dieses unvermeidlichen Aktes.

Endlich schob er mir das Büchlein zu. „Unser letztes Produkt“, sagte er bescheiden, gar nicht forsch wie ein Werbemann. „Der Versuch, die Story eines altehrwürdigen Hotels in Wort und Bild zu fassen. – Würden Sie wohl, morgen in Zinnowitz, mal einen Blick hineintun? Und mir eventuell später, vor oder nach Ihrem Vortrag in der ,Blechbüchse‘ dort, unverblümt Ihre Meinung sagen?“

Auch Hinrichs sah mir das Erschlaffen durch Reizüberflutung an. Also drang er nicht weiter in mich, sondern ging mit einer knappen Verbeugung, die immerhin Respekt spüren ließ.“

Erstmals 1981, 1987 und 2001 erschienen die drei Teile der Abenteuer des Uwe Reuss von Wolfgang Schreyer, die hier in einem E-Book zusammengefasst sind – „Die Suche oder Die Abenteuer des Uwe Reuss“ (Verlag Das Neue Berlin), „Der Fund oder Die Abenteuer des Uwe Reuss“ (Verlag Das Neue Berlin) und „Der Verlust oder Die Abenteuer des Uwe Reuss“ (BS-Verlag Rostock): HAMBURG, FRÜHJAHR 1979.

Uwe Reuss, als Chef einer Nordsee-Bohrinsel kürzlich entlassen, nimmt die Suche nach der Tochter seines besten Freundes auf: Gina Dahlmann ist mit einem verheirateten Grundstücksmakler angeblich nach Übersee geflogen und dort verschollen. Amateurdetektiv Reuss folgt der verwirrenden Spur; doch was treibt ihn an?

Auf bizarren Umwegen endlich am Ziel, merkt Reuss, dass ihn, den Jäger, von den Gejagten wenig trennt. In der Weite des Ozeans und im Wagnis der Freiheit fühlt er sich den anderen – und dem Sinn seines Lebens plötzlich nahe.

In seinem Fluchtgepäck, zufällig auf dem Flugplatz vertauscht, findet er statt der letzten jämmerlichen Habe einen Berg Bahama-Dollars. Den Koffer zurückgeben oder ihn als gerechten Ausgleich, als Geschenk des Schicksals nehmen? Er riskiert es in einer Schatzsuche, um aus dem kleinen Fund den großen Wurf zu machen, den Volltreffer seines Lebens.

Liegt da nicht an einem verlassenen Ort im Pazifik von alters her Piratengold? Und der Kirchenschatz von Lima, anno 1822 beim Rückzug der Spanier aus Peru versteckt? Dazu noch das Beutegut eines deutschen Hilfskreuzers, der hier im April 1916 nach erbitterter Gegenwehr sank? Ist die Karte von Isla del Coco authentisch, die das Versteck des Prisenguts nennt?

Schwungvoll beginnt Uwe Reuss mit Linda, seiner nächsten Partnerin, ein neues Leben. Sie fassen Fuß auf Navassa und betreiben dort ein Feriendorf. Bis es ihnen dämmert, dass dies nur fremde Interessen deckt: US-Rauschgift-Bekämpfer, internationale Drogenhändler, übermächtige Finanzjongleure oder Waffenschieber?

Da bleibt nur rascher Rückzug auf die friedliche Insel Grand Turk. Doch dem Spiel der Gewalten hält auch diese Ausweich-Existenz am Ende nicht stand. Wieder zieht die tragische Gestalt des Kubaners Sergio Figueras das Paar in den Strudel bitterer Ereignisse. Hier der Beginn der spannenden Trilogie über den Helden wider Willen:

„Für Susanne und Robert

Wo Geld ist, da ist der Teufe. Aber wo kein Geld ist, da ist er zweimal.

Georg Weerth

Die Suche

APRIL

Wir wissen längst nicht alles, was wir wollen.

La Rochefoucauld

1

Dieser Traum! Es war Reuss, als habe er den schon mal geträumt. Der überschwemmte Auenwald, den kannte er doch, eine versunkene Welt… Bei dem Versuch, sich zu erinnern, zerfiel die Szene, noch aber stand ihm dies vor Augen: durch umspültes Buschwerk war er gerauscht, im Zweierfaltboot, und Stämmen ausgewichen, um die gurgelnd Wasser schoss. Dann der Ruck, man saß fest, in grauem Gehölz, verkrustet von Treibgut, bärtig, ohne Laub – Frühlingshochwasser, das schon fiel. Die Strömung im Rücken, unfähig, mit dem Paddel freizukommen. Der Partner hinter ihm rief, er solle aussteigen, das Boot abstoßen. Reuss wusste auch im Traum ganz gut, dies wär Sache dessen gewesen, der das verlangte und den er nicht recht sah. Schließlich saß der am Ruder, hatte es verpatzt. Trotzdem wand Reuss sich heraus, und während er, auf das schwankende Boot gestützt, bis zum Hals einsank, hörte er eine Melodie, grell, gequetscht, tremolierend, ein Trompetensignal, dem er einfach folgen musste. Er stieß sich ab, das Wasser umfing ihn, trug ihn aus dem Gestrüpp ans Licht.

Aus. Kein Schluss. Das Boot war weg gewesen. Die Tonfolge konnte er nicht wiedergeben, obwohl sie ihm bekannt erschien. Der Partner, das konnte Dahlmann sein. Zwar war er mit dem nur gesegelt, seine Paddlerzeit lag weit zurück. Doch Träume durfte man nicht wörtlich nehmen, dieser hier bedeutete vielleicht: Dahlmann verpfuschte etwas an Bord, Reuss bog es wieder hin. Nur an Bord. An Land verpfuschte Dahlmann so leicht nichts, da war er clever und beherrscht, ihm durchaus überlegen.

Keine Post, nur Prospekte und die Zeitung – Anflug von Ärger, schon abstumpfende Enttäuschung. Mobil und Odeco ließen sich reichlich Zeit mit seinen Bewerbungen. Gut, sollten sie, Reuss eilte es ja auch nicht, mit dem fortzufahren, was er seit so vielen Jahren tat. Aber zu irgendeiner Antwort müssten sie doch fähig sein?

Beim Kaffee erfreuten ihn die Sonnenkringel an der Wand. Zum Fenster wehte Flussgeruch herein, das Summen und Tuten der Schlepper draußen auf der Fahrrinne. Das Radio versprach milde Tage nach dem Jahrhundertwinter: zwischen einem Tief bei Irland und einem Hoch über Finnland wird mäßig warme Luft herangeführt, Südostwind vier bis fünf, Segelwetter; und noch kaum ein Sportboot im Wasser… Druckfrisch duftendes Papier. Die Folgen des Reaktorunfalls in Harrisburg. Der Bundeskanzler in Brasilia, der Schah auf den Bahamas. Kampala genommen, Idi Amin auf der Flucht. Aufständische in Nicaragua besetzen die Stadt Esteli. Graf Lambsdorff nach Oslo gereist, ein Deminex-Direktor aus seiner Begleitung sagt vor der Presse: Um mit den Norwegern richtig ins Ölgeschäft zu kommen, müssen wir hier eine runde Milliarde investieren.

Das war neu. Deminex, eine Tochtergesellschaft der Veba. Reuss sah genauer hin. Nach dem Ausfall des Öls aus dem Iran, hieß es, hoffe Bonn auf Norwegen, auf dessen Lagerstätten unterm Meeresgrund. Künftig könne Norwegen ein Fünftel des westdeutschen Bedarfs decken, falls es nur an die Bundesrepublik verkaufe. Allerdings wünsche Oslo Investitionen, nur gegen neu zu schaffende Arbeitsplätze tausche es Bohr- und Förderrechte in seinem Sektor der Nordsee. Derzeit pokerten 47 Erdölfirmen um 15 Konzessionsgebiete; gut im Rennen läge Deutschlands Deminex – offenbar dabei, Schürfrechte an sechs Blöcken des norwegischen Sockels zu erwerben.

Reuss schob das Geschirr zusammen. Endlich wachten die Burschen auf. Der Schah hatte gehen müssen, damit sie munter wurden und aufhörten, vor der eigenen Küste herumzustochern, im nassen Dreieck, in dem schon Kaiser Wilhelms Kriegsflotte gescheitert war. Jetzt also stieg man ein, die Veba wollte in Norwegen Autoteile produzieren, Siemens technisches Porzellan, Hüls Kunststoffe, BMW versprach Stoßstangen, Porsche Radfelgen zu beziehen, selbst die deutsche Meeresforschung war dabei… Da hatte der Wirtschaftsminister aber Dampf gemacht.

Das Telefon, die Universitätsklinik. Man verband Reuss mit dem Professor Dahlmann. Nach ein paar Scherzen sagte der, er müsse Reuss noch heute sehen, ja, um vier sei er fertig und hole ihn ab auf dem Weg zum Club. Es klang unaufschiebbar, vermutlich wollte Dahlmann seine Jacht flottmachen lassen, weiter nichts. Was er auch tat, er tat es entschieden, stets war es dringlich, und es gelang ihm, dieses Gefühl auf andere zu übertragen. Eine Gottesgabe. Wer es schaffte, sich ständig derart ernst zu nehmen, der hatte das Zeug zum Erfolgstyp.

Dahlmanns Gehabe hatte Reuss verstimmt. Es ließ ihn seine Unzulänglichkeiten spüren. Er konnte das ja nicht so gut, wurde von solchen Männern – auch wenn das seine Freunde waren – leicht eingewickelt, überfahren. Er hatte nun keine Lust mehr, den Traum Dahlmann zu erzählen. Es war sowieso klar, was der sagen würde, falls er überhaupt zuhörte. Träume, würde er erklären, seien der Ausdruck geheimer Wünsche, für den Laien undurchsichtig, weil verschlüsselt durch Selbstzensur und eine archaisch-infantile Bildersprache, die nur dem Fachmann etwas sage, also ihm… Die glatte Sicherheit der Vorlesungsstimme, Reuss hatte sie im Ohr.“

Erstmals 1989 veröffentliche Hans BentzienIm Zeichen des Regenbogens. Aus dem Leben Thomas Müntzers“: Am 13.Juli 1524 sitzen der sächsische Herzog Johann und sein Sohn in der Kapelle des Allstedter Schlosses. Sie wollen Thomas Müntzer predigen hören, um herauszufinden, wie gefährlich er für sie ist. Thomas weiß, dass von dieser Predigt sein weiteres Schicksal abhängt.

Um den Fürsten seine Gedanken klarzumachen, hat er für die Predigt einen Abschnitt aus der Bibel, aus dem Buch Daniel gewählt. Er erzählt von König Nebukadnezar, den einmal ein schwerer Traum gequält hatte. Die besten Denker seines Landes sollten den Traum deuten. Doch der König konnte ihnen nicht sagen, was ihm im Schlaf erschienen war. Nur Daniel besaß soviel Weisheit, den Wunsch des Königs zu erfüllen. Er sprach zu Nebukadnezar: „Du König, hattest einen Traum, und siehe, ein großes und hohes und hell glänzendes Bild stand vor dir, das war schrecklich anzusehen. Das Haupt dieses Bildes war von feinem Gold, seine Brust und seine Arme waren von Silber, sein Bauch und seine Lenden waren von Kupfer, seine Schenkel waren von Eisen, seine Füße waren teils von Eisen und teils von Ton.“

Plötzlich wäre ein Stein vom Himmel gefallen, erzählte Daniel weiter, und er hätte die tönernen Füße des Standbildes zerschlagen. Dieser Stein von großer Kraft wuchs und wuchs und bedeckte bald die ganze Erde. „Da wurden miteinander zermalmt Eisen, Ton, Kupfer, Silber und Gold und wurden wie Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, dass man sie nirgends mehr finden konnte.“

Werden die Fürsten verstehen, dass mit dem Koloss auf tönernen Füßen ihr eigenes Reich gemeint war? Das Gold bezeichnet den Adel, das Silber die reichen Patrizier und Bankiers, das Kupfer die Handwerker, das Eisen die Lohnarbeiter und der Ton die Bauern. Werden sie erkennen, wie alles kommen wird in der Zukunft? Thomas sagt es ihnen, sollen sie ihr Handeln darauf einrichten: Ergreift den Hammer und zerschlagt den Koloss, diese ungerechte Welt, in der alles auf den Schultern der Bauern ruht! Wenn ihr jedoch die euch gegebene Macht missbraucht, dann wird auch euer Reich zerschlagen. Dann wird euch das Schwert genommen und dem Volk gegeben.

Als Thomas seine Predigt beendet hat, verlassen die Herren ohne ein Wort die Kapelle. Ihr Urteil steht fest.

Ein knappes Jahr später, nach der Schlacht bei Frankenhausen, wird Thomas Müntzer, der Feldprediger des geschlagenen Bauernheeres, enthauptet. Sein Kopf wird aufgespießt und als Mahnung zur Schau gestellt.

Hans Bentzien erzählt in dem Buch vom Leben und Sterben Thomas Müntzers, der in den armen Leuten aus Stadt und Land die Hoffnung auf ein besseres Leben erweckte und ihr Führer wurde im Großen Deutschen Bauernkrieg. Am Anfang ist aber noch nicht von Müntzer, sondern von einem anderen Kämpfer für Gerechtigkeit die Rede:

Das Pfeiferhänslein

Unsere Geschichte beginnt im Jahre 1476, mit einem jungen Hirten, der schön auf der Flöte blies, um sich die Zeit zu vertreiben, wenn er auf das Vieh aufpassen musste. Niemand beachtete ihn besonders, denn junge Hirten gab es damals genug, und auf der Flöte konnten sie alle blasen. Aber eines Tages begann er vor der Kirche von Niklashausen, einem kleinen Dorf im Taubertal, zu predigen. Er wandte sich mit seiner Rede an alle Kirchenbesucher. Sie liefen zusammen. Wer war denn das? Hans Böheim? Der Name war den meisten unbekannt. Seine Verwandten und Freunde nannten ihn nur das Pfeiferhänslein.

Es war schon mehrfach vorgekommen, dass jemand während der frommen Pilgerfahrten plötzlich zu predigen anfing und, anders als die Priester, seine eigenen Gedanken und Träume ohne Hemmungen vor den Leuten ausbreitete, manchmal wartete man geradezu auf so einen. Hans Böheim sprach im Zorn gegen die verkommene Priesterschaft, er leugnete den Anspruch des Papstes auf Gehorsam und dehnte die Verweigerung des Gehorsams auf alle Fürsten, geistliche wie weltliche, aus. Sie alle sollten zukünftig arbeiten und nichts weiter als einen Tagelohn dafür bekommen. Das zusammengeraubte Gut müsse ihnen weggenommen und an jedermann verteilt, alle Abgaben, die Steuern und die Zinsen, die Frondienste müssten abgeschafft werden. Besonders verbittert war er über den Raub der Allmende durch die Oberen. Die Allmende, „was allen gemeinsam ist“, war ein altes Recht, das noch aus dem 10. Jahrhundert stammte. Alle Dorfgenossen durften die Gemeindeflur nutzen, die Weiden, Wälder und Gewässer. Sie holten Futter und Holz, Wildbret und Fisch daraus, und das wurde ihnen jetzt verboten, und sie wurden für die Ausübung ihres alten Rechtes grausam bestraft.

Die Predigten des Pfeiferhänsleins trafen die empörte Stimmung der Bauern, aber auch in den Städten vernahm man seine Botschaft und stimmte ihr freudig zu. Aus allen Gegenden liefen die Leute zusammen, und seine flammenden Aufrufe gingen von Mund zu Mund. Die immer zahlreicher werdende Zuhörerschaft beflügelte den Redner, und er forderte schließlich, dass man alle Pfaffen erschlagen solle, wobei die Massen diesen Ruf in ihre frommen Gesänge aufnahmen:

Wir wollen es Gott im Himmel klagen,

Kyrie eleison,

Dass wir die Pfaffen nicht zu Tod sollen schlagen,

Kyrie eleison,

so klang es den Pfaffen in die Ohren, und die Kundschafter des Bischofs von Würzburg berichteten von ihrer Angst: „In kurzem wird es dazu kommen, dass der Priester möchte die Platte bedecken mit der Hand, das tät er gern, damit man ihn nicht kenne.“ Und die Kuriere berichteten weiter, Hans Böheim hätte gefordert, „dass die Fürsten, geistliche und weltliche, auch Grafen und Ritter, soviel haben: hätte das die Gemeinde, so hätten wir gleich alle genug, was auch geschehen muss.“ Es werde dazu kommen, „dass die Fürsten und Herrn noch um einen Tagelohn müssen arbeiten.“

Die Fürsten verboten die Wallfahrten nach Niklashausen und befahlen die Verhaftung des Redners. Er wurde auf das Schloss von Würzburg gebracht, und Tausende Menschen folgten ihm dorthin, zum Sitz des Bischofs, auf die Marienfeste oberhalb der Stadt. Dort forderten sie die Freilassung ihres Propheten. Aber vergeblich.

Das Pfeiferhänslein wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Hans Böheim musste noch mit ansehen, wie zwei seiner Getreuen enthauptet wurden. Das Volk erzählte, seine Seele sei als Taube in den Himmel gestiegen, Gott habe sie gerettet.

Die Forderungen des Pfeiferhänsleins blieben lebendig. In den kommenden Jahrzehnten flammen immer wieder Unruhen auf. Im Jahre 1493 beginnt die große Bundschuhverschwörung, 1514 die Erhebung des Armen Konrad. Aber nicht nur die Bauern empören sich gegen die immer maßloser werdenden Forderungen ihrer weltlichen und geistlichen Obrigkeiten. Auch die Bürger in den Städten müssen sich ihrer Bedrücker erwehren. Manchmal stehen sie alle, die reichen Patrizierfamilien, die Zunftmeister und ihre Gesellen und die besitzlosen Armen der Stadt gemeinsam gegen die Beschneidung ihrer Rechte und die Ausplünderung durch die Landesfürsten. Oft aber geht es gegen den Rat der Stadt, der im Interesse der reichen Familien regiert. Handwerksmeister, Gesellen, kleine Kaufleute wehren sich gegen immer neue Steuern, Münzverschlechterungen und Teuerungen. Und sie fordern die Mitbestimmung im Rat, die Demokratisierung des Stadtregiments.“

Und dann geht es tatsächlich um den eigentlichen Helden dieses Buches, um Thomas Müntzer, um sein Leben und sein Sterben, vor allem aber um seine Hoffnungen und Träume sowie um seine Vorstellungen vom Glück des Volkes. Und damit ist er uns ganz nahe. Es lohnt sich bestimmt, gerade zu Wahlzeiten wieder einmal darüber nachzudenken, was dies eigentlich bedeuten könnte – das Glücks des Volkes.

Viel Vergnügen beim Nachdenken und vor allem beim Lesen, weiter einen schönen Literatur-Sommer, bleiben auch Sie voller Hoffnung, vor allem aber schön gesund und munter und bis demnächst.

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