Die Olympia-Läuferin Kristina Timanowskaja hat heute in der polnischen Botschaft in Tokio Asyl ersucht, nachdem die belarussischen Behörden versuchten, sie unter Zwang in ihr Heimatland zu bringen. Das Vorgehen gegen Timanowskaja ist kein Einzelfall: Immer mehr belarussische Sportler_innen müssen ihre Karriere und ihre Freiheit aufgeben, weil sie sich gegen die Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land aussprechen. Dies belegt ein neuer Bericht von Amnesty International, der jetzt im Rahmen der Kampagne #StandWithBelarus veröffentlicht wird. ­­­­­­­­BERLIN, 02.08.2021 – Für den am heutigen Montag veröffentlichten Bericht „Belarus: Crackdown on Athletes“ hat Amnesty International mit Sportler_innen gesprochen, die aufgrund ihres Einsatzes für die Wahrung der Menschenrechte in Belarus Repressionen erlitten. Sport spielt für Präsident Alexander Lukaschenko eine besondere Rolle. Der belarussische Präsident ist begeisterter Amateur-Hockeyspieler und war bis Dezember 2020 selbst Vorstand des Nationalen Olympischen Komitees.

„In Belarus untersteht die Sportverwaltung der direkten Kontrolle der Regierung unter Alexander Lukaschenko. Sportler_innen werden vom Staat begünstigt und von der Gesellschaft geliebt, daher überrascht es nicht, dass Athlet_innen, die sich kritisch äußern, zum Ziel von Repressalien werden“, sagt Heather McGill, Expertin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International.

Im August 2020 unterzeichneten mehr als 1.000 Sportler_innen einen offenen Brief, in dem neue Wahlen, das Ende von Folter und anderer Misshandlung sowie keine weiteren Festnahmen friedlicher Protestierender gefordert wurden. Die Vergeltungsmaßnahmen der Regierung ließen nicht lange auf sich warten.

Nach Angaben der Belarusian Sport Solidarity Foundation (BSSF), einer Nichtregierungsorganisation zur Unterstützung von Sportler_innen, die aufgrund ihrer politischen Ansichten verfolgt werden, sind bisher insgesamt 95 Athlet_innen wegen der Teilnahme an friedlichen Protesten inhaftiert worden. Sieben davon wurden aufgrund ihrer friedlichen Regierungskritik wegen politischer Vergehen angeklagt. 124 Sportler_innen wurden in anderer Weise ins Visier genommen, wie zum Beispiel 35 Athlet_innen und Trainer_innen, die aus dem Nationalteam ausgeschlossen wurden.

Die dreifache Olympiamedaillengewinnerin Aliaksandra Herasimenia leitet seit zwei Jahren Schwimmkurse für Kinder, nachdem sie das Wettbewerbsschwimmen an den Nagel gehängt hat. Sie fühlte sich verpflichtet, in den sozialen Medien Stellung zu beziehen, stand aber vor einem Dilemma: „Ich hatte die Wahl, entweder meine Meinung zu vertreten oder nichts zu sagen. Für unsere Kurse mieten wir Schwimmbäder vom Staat. In Belarus sind alle Schwimmbäder staatlich, daher war mir klar: Wenn ich meine Ansichten vertrete, wird das auch Folgen für meine Kolleg_innen und die Kinder haben. Zuerst wusste ich nicht, was ich tun sollte, doch nach ein paar Tagen wurde mir klar, dass ich nicht länger schweigen konnte“, erinnert sie sich im Gespräch mit Amnesty International. Es kam, wie es kommen musste: Innerhalb weniger Tage durfte sie kein einziges Schwimmbad mehr benutzen.

Aliaksandra Herasimenia ist mittlerweile Vorsitzende der BSSF, die sich beim Internationalen Olympischen Komitee erfolgreich dafür eingesetzt hat, Alexander Lukaschenko als Leiter des Nationalen Olympischen Komitees zu ersetzen und einige internationale Sportveranstaltungen nicht in Belarus abzuhalten.

Am 2. April 2021 erklärte die belarussische Ermittlungsbehörde, dass ein Strafverfahren gegen Aliaksandra Herasimenia und BSSF-Direktor Alexander Apeikin eingeleitet worden sei. Man wirft ihnen vor, „zu Handlungen aufgerufen zu haben, um die nationale Sicherheit zu gefährden“. Dieser Straftatbestand kann mit bis zu sieben Jahren Haft geahndet werden.

Alena Leutschanka, eine der bekanntesten Athlet_innen in Belarus, ist eine Basketballspielerin, die bei den Olympischen Spielen schon zweimal Gold geholt hat. Sie äußerte sich öffentlich zu den Geschehnissen in Belarus, indem sie den offenen Brief unterzeichnete und ihre Ansichten in den sozialen Medien vertrat. Am 30. September 2020 wurde sie am Flughafen von Minsk festgenommen, als sie für die Behandlung einer Sportverletzung nach Griechenland fliegen wollte. Sie verbrachte 15 Tage in der berüchtigten Hafteinrichtung Akrestsina in Minsk und sagte Amnesty International, dass man die Inhaftierten in ihrer Zelle besonders schlecht behandelte.

Leutschankas Zelle war für vier Personen ausgelegt, in der meist jedoch fünf Personen festgehalten wurden. Da sie gezwungen waren, auf den Metallgestellen der Betten zu schlafen, versuchten sie, es sich mit Kleidungsstücken, Zeitungspapier und Hygienebinden bequemer zu machen. Die Leitung der Hafteinrichtung sagte zu ihnen, dass dies Absicht sei, „um dafür zu sorgen, dass sie nicht wiederkommen wollten“.

„Belarussische Sportler_innen haben einen hohen Preis dafür bezahlt, dass sie mutig ihre Ansichten geäußert haben, und wir fordern alle auf, durch die Teilnahme an unserer Aktion ihre Solidarität zu zeigen“, sagt Heather McGill mit Verweis auf einen am 9. August beginnenden Onlinemarathon der BSSF zur Unterstützung belarussischer Sportler_innen.

Hintergrund

Seit der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 und dem vorangegangenen Wahlkampf haben die belarussischen Behörden mehr als 30.000 Menschen festgenommen, weil sie sich an Protesten gegen die Staatsführung unter Alexander Lukaschenko beteiligten. Die belarussische Polizei setzte Gummigeschosse, chemische Reizstoffe, Wasserwerfer und andere Waffen gegen friedlich Demonstrierende ein. Es kam im Kontext der Proteste zu mindestens vier Todesfällen und unzähligen schweren Verletzungen. Bisher wurden im Zusammenhang mit diesen mutmaßlichen Verstößen keine Strafverfahren gegen Polizeibeamten eingeleitet.

In dem Bericht „You are not Human Beings” hat Amnesty International Menschenrechtsverletzungen an friedlich Protestierenden dokumentiert. Die Betroffenen wurden gezwungen sich auszuziehen, mussten Schläge ertragen und über lange Zeit in Stresspositionen verharren. Außerdem erhielten sie oft tagelang keine Nahrung, kein Trinkwasser und keine medizinische Versorgung. Die Veröffentlichung dieses Berichts stellte den Auftakt einer globalen Solidaritätskampagne von Amnesty International mit den friedlich Protestierenden in Belarus dar.

Seit Januar macht Amnesty International regelmäßig in Veröffentlichungen darauf aufmerksam, wie unterschiedliche Bereiche der belarussischen Gesellschaft von der gewalttätigen Niederschlagung der Proteste betroffen sind. Dazu zählen Kinder, Frauen, Kulturschaffende, ältere Menschen, medizinisches Personal, Studierende sowie Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und auch Sportlerinnen und Sportler. Belarus erlebt derzeit die massivsten Einschränkungen der Menschenrechte seit der Unabhängigkeit.

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