Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio, Richter am Bundesverfassungsgericht a. D., hat die staatliche Ernährungspolitik hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit geprüft1und äußert sich kritisch zu den Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (WBAE). Insbesondere das vom WBAE herangezogene Verbraucherleitbild sieht er problematisch: Das im Verbraucherschutz und im Wettbewerbsrecht gültige Leitbild des mündigen Verbrauchers entspricht auch dem Menschenbild des Grundgesetzes als einer selbstbestimmten, zur eigenen Entfaltung befähigten Persönlichkeit. Einseitig fokussierte ‚Ideale‘ einer vollständig gesteuerten, zieloptimierten Gesellschaft widersprechen diesem Menschenbild.

Weiter führt Di Fabio über das WBAE-Gutachten aus: Im Hinblick auf erwachsene Bürger verfügt die öffentliche Gewalt in aller Regel nur über einen allgemeinen Auftrag zur Information und Aufklärung, nicht zur Vorgabe von erzieherischen Weltanschauungen oder Lebenssinn. Sachliche Verbraucherinformationen und Aufklärungsmaßnahmen stärken in diesem Sinne das Leitbild des autonomen Verbrauchers. Der Gesetzgeber darf unter Achtung der Grundrechte kollektive Ziele formulieren und verbindlich machen, aber dabei nicht die Freiräume für Selbstentfaltung und eigenes Entscheiden substantiell entziehen. Er darf den Bürger nicht durch moralische Erziehung ‚bessern‘. Die Art und Weise der Ernährung gehört zur persönlichen Lebensgestaltung. So entstehen derzeit viele neue Ernährungstrends weitgehend ohne staatliche Vorgaben.

Prof. Di Fabio vertritt in seiner Kritik die Meinung, dass wirtschaftliche Lenkungsmaßnahmen legitime Ziele verfolgen und verhältnismäßig sein müssen, um diese Ziele schonend zu erreichen. Es gehe darum, öffentliche Gemeinwohlziele so zu erreichen, dass grundrechtliche Freiheiten in möglichst geringem Umfang eingeschränkt werden. Lenkungsmaßnahmen dürfen zudem einkommensschwächere Bevölkerungsschichten mit Blick auf das Sozialstaatsprinzip nicht übermäßig belasten und müssen insgesamt eine faire Lastenverteilung berücksichtigen. Selbst aus EU-Recht könne die besondere Schutzwürdigkeit des Verbrauchers nicht abgeleitet werden. Wenn der Verbraucher aber nicht als grundsätzlich uninformiert gilt, muss jeder die Grundrechte tangierende Vorstoß des Gesetzgebers, der die Menschen zu einem guten Leben bringen soll, klar und konkret begründet sein. Die Erziehung der Bürger zum Besseren sei für sich kein legitimer Wert."

Mit freundlicher Genehmigung des Lebensmittelverbandes: Kritik am Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats – moralische Erziehungsansätze stehen im Widerspruch zum Menschenbild des Grundgesetzes (Lebensmittelverband, 21.06.2021)

1) Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio, Staatliche Ernährungspolitik und Verfassung, ZLR 2021, 169-195

Nudging:„Mit "Nudging" für "Anstoßen", "Schubsen" oder "Stupsen" bewegt man jemanden auf mehr oder weniger subtile Weise dazu, etwas Bestimmtes einmalig oder dauerhaft zu tun oder zu lassen. „Nudging“ von Seiten des Staates juristisch und moralisch umstritten, weil es zu Gleichschaltung, Überwachung und Entmündigung beitragen kann“ (u.a. https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/nudging-99919 )

 

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