Das Bundesarbeitsgericht hatte im August 2020 über eine Rechtsbeschwerde gegen die Schwächung der Arbeitnehmermitbestimmung bei der Umwandlung des Softwarekonzerns SAP in eine SE entschieden. Nach Ansicht des BAG dürften Unternehmen nach deutschem SE-Recht auch bei einer Umwandlung in eine SE die gesicherten Sitze für Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter im Aufsichtsrat nicht ausschließen – anders als SAP argumentiert. Ein prägendes Element der Mitbestimmung bliebe demnach gewahrt. Zugleich beschloss das BAG, dem EuGH die Auslegungsfrage vorzulegen, ob das EU-Recht in diesem Punkt das deutsche SE-Recht stützt. Damit habe das oberste deutsche Arbeitsgericht die Arbeitnehmerrechte und die Sicht der Gewerkschaften gestützt und sei zugleich der hohen europarechtlichen Relevanz des Verfahrens gerecht geworden, sagt Jurist Sick. Denn: „Das deutsche System der industriellen Beziehungen baut auf belastbaren Mitbestimmungsrechten der Beschäftigten auf. Aber die nationalen Mitbestimmungsgesetze laufen immer häufiger ins Leere. Oft, weil sie über Konstrukte europäischen Rechts ausgehebelt werden. Die Erosion ist dramatisch und die SE ist mittlerweile ein zentrales Vehikel, um Mitbestimmung zu unterlaufen.“
So zeigt eine aktuelle Studie des I.M.U.: Mindestens 1,4 Millionen Beschäftigte in deutschen Unternehmen können das Recht auf paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat durch betriebliche und überbetriebliche Arbeitnehmervertreter nicht ausüben, weil ihre Arbeitgeber Rechtslücken für eine legale Umgehung ausnutzen (Links zu allen genannten Studien unten). Drei Viertel der Unternehmen mit legaler Mitbestimmungsvermeidung nutzen Lücken mit europarechtlichem Bezug, allein bei mindestens gut 300.000 Beschäftigten werden Mitbestimmungsrechte durch die Umwandlung in eine SE umgangen. „Wichtig ist, dass weitere Tendenzen gestoppt werden, Mitbestimmung durch europäisches Recht auszuhebeln. Das gilt auch für den Fall SAP“, erklärt der Jurist Sick.
Beim Softwarekonzern kam es im Zuge der Umwandlung in eine SE zu der Regelung, das Vorschlagsrecht von Gewerkschaften für die Besetzung von mindestens zwei Aufsichtsratsmandaten abschaffen zu können. Dagegen haben die IG Metall und ver.di geklagt (siehe auch die aktuelle PM der beiden Gewerkschaften; Link unten). Die Präsenz von „überbetrieblichen“ Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertretern in den Aufsichtsräten großer Unternehmen ist ein integraler Teil des deutschen Mitbestimmungsgesetzes; diese steuern einen überbetrieblichen Blickwinkel bei und stärken damit die Kompetenz der Arbeitnehmerseite und des Aufsichtsrates insgesamt. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil von 1979 ausdrücklich bestätigt.
Der EuGH prüft nun, ob die EU-Richtlinie zur SE das deutsche SE-Beteiligungsgesetz, das bei der Umwandlung in eine SE Sitze für überbetriebliche Arbeitnehmervertreter garantiert, stützt. Unternehmensrechtler Sick erinnert in diesem Zusammenhang an ein früheres Verfahren: „Der EuGH hat erst vor wenigen Jahren in einem anderen wichtigen Fall bewiesen, dass er die Bedeutung nationaler Mitbestimmungsrechte und -praxis versteht und achtet.“ In dem Verfahren, bei dem es um die Aufsichtsratsbesetzung bei der TUI AG ging, erklärte der EuGH die deutsche Mitbestimmung im vollen Umfang für europarechtskonform.
Dass eine starke Mitbestimmung, die auch überbetriebliche Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter umfasst, für das gesamte Unternehmen und auch gesellschaftlich positiv wirkt, belegen verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen. So zeigen mehrere aktuelle Studien von Ökonomen der Universitäten Göttingen, Marburg und Duisburg-Essen, dass stark mitbestimmte Unternehmen erfolgreicher durch die Finanz- und Wirtschaftskrise kamen als Firmen ohne Arbeitnehmermitsprache – ein Befund, der aktuell besonders bedeutsam sein dürfte. Zudem verfolgen sie häufiger eine qualitäts- und innovationsorientierte Strategie, sind im Schnitt rentabler und betreiben seltener aggressive Steuervermeidung (Link unten).
– Ampelkoalition hat rechtliche Verbesserungen angekündigt –
Auch jenseits der aktuellen gerichtlichen Auseinandersetzung ist nach Analyse des I.M.U. der Bedarf groß, Lücken in den Regelungen zur SE und im deutschen Mitbestimmungsrecht zu schließen. Dabei seien der deutsche und der europäische Gesetzgeber gefragt. Beispielsweise würden immer wieder Firmen in eine SE umgewandelt, kurz bevor sie die deutschen gesetzlichen Schwellenwerte von 500 inländischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für eine Drittelbeteiligung der Beschäftigten im Aufsichtsrat oder 2.000 für die paritätische Mitbestimmung erreichen. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo ohne mitbestimmten Aufsichtsrat also eingefroren wird, können sich Unternehmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System der Mitbestimmung verabschieden – auch wenn sie später deutlich mehr Beschäftigte haben. Bei vier von fünf in Deutschland ansässigen SE mit mehr als 2.000 Beschäftigten fehlt die für deutsche Rechtsformen vorgesehene paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Darunter sind auch DAX-Konzerne wie Zalando oder Vonovia. Das sei ein Kernproblem für die Partizipation, weil das Nachwachsen mitbestimmter Unternehmen so verhindert wird, betont Sick.
Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag einige rechtliche Verbesserungen angekündigt. Künftig soll es nicht mehr möglich sein, Mitbestimmung durch Gründung einer SE auszuhebeln. Auch die sogenannte Drittelbeteiligungslücke im Konzernrecht soll geschlossen werden. „Dass die Ampelkoalition die Unternehmensmitbestimmung als wichtigen Faktor für eine erfolgreiche Wirtschaft anerkennt und schützen will, ist ein großer Fortschritt“, sagt Dr. Daniel Hay, wissenschaftlicher Direktor des I.M.U. „Darüber hinaus gibt es aber weitere Lücken in den Gesetzen. Beispielsweise ist es für Unternehmen mit Sitz in Deutschland möglich, Mitbestimmung durch Nutzung einer ausländischen Unternehmensrechtsform zu vermeiden. Hier muss die Bundesregierung ebenfalls aktiv werden. Ein Mitbestimmungserstreckungsgesetz würde klarstellen, dass die Mitbestimmungsgesetze für alle kapitalistisch strukturierten Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten in Deutschland gelten“, erklärt Hay.
Zudem müsse sich die Bundesregierung auf europäischer Ebene für Mindeststandards der Unternehmensmitbestimmung einsetzen. Auch in dieser Frage nehmen die I.M.U.-Experten aktuell positive Signale wahr: Das Europäische Parlament hat Ende 2021 mit großer Mehrheit einem Bericht zugestimmt, der unter anderem eine EU-Richtlinie fordert, die Mindestnormen für die Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung setzt, wenn Unternehmen europäische Gesellschaftsrechtsformen wie die europäische Aktiengesellschaft SE anwenden oder andere Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Mobilität von Unternehmen nutzen.
Aktuelle PM von IG Metall und ver.di zur EuGH-Verhandlung: ver.di und IG Metall begrüßen die positiven Einschätzungen vor dem Europäischen Gerichtshof zur Zusammensetzung von Aufsichtsräten – ver.di (verdi.de)
Hintergrundinformationen: Studien zur Mitbestimmung: Was Mitbestimmung bewirkt – Hans-Böckler-Stiftung (boeckler.de)
Aktuelle Auswertung des I.M.U. zu Mitbestimmungsumgehung durch SE: 20 Jahre Europäische Aktiengesellschaft: 4 von 5 großen SE vermeiden paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat – Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (imu-boeckler.de)
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