Die Menschen, die vor der Pandemie schon zu viel auf die Waage brachten, sind oft auch die, die unter Corona noch mal zugelegt haben. Weniger und gesünder essen, Alkohol, Fett und Zucker weitgehend vermeiden – neu ist das alles nicht. Mit Beginn der Fastenzeit versuchen viele, ihre Linie wieder in Form zu bringen. Der Ernährungsmediziner Dr. Reinhold Gellner, Oberarzt der Medizinischen Klinik B (Gastroenterologie, Hepatologie, Endokrinologie, Klinische Infektiologie) am UKM (Universitätsklinikum Münster) ist überzeugt, dass beim Abnehmen vieles Kopfsache ist.

Herr Dr. Gellner, Lockdown, Homeoffice und insgesamt zwei schwierige Jahre. Ich nehme an, wir müssen spätestens ab Aschermittwoch kollektiv am Gewicht arbeiten?

Man könnte meinen, dass ein großer Teil der Menschen in dieser Zeit zugenommen hat – aber tatsächlich ist es nicht ganz so einfach. 2021 hat die Technische Universität München (TUM)  eine Online-Befragung unter 1.000 Leuten durchgeführt, die zeigt, dass etwa 40 Prozent der Befragten seit Beginn der Pandemie zugenommen haben. Bei diesen Befragten betrug die durchschnittliche Gewichtszunahme 5,5 kg. Bei fast der Hälfte ist das Gewicht aber ungefähr gleichgeblieben und 12 Prozent haben sogar abgenommen. Zusammengenommen ergab sich eine Gewichtszunahme von 1,5 kg währen der Pandemie. Auffällig ist: Zugenommen haben vor allem diejenigen, die vorher schon einen zu hohen Body-Mass-Index (BMI) hatten.

Können Sie diesen Effekt auch für Ihre eigenen Patientinnen und Patienten bestätigen?

Es ist längst nicht so, dass alle zugenommen haben. Da wir hier aber sehr viele Diabetiker betreuen, die ohnehin mit Gewichtsproblemen kämpfen, kann ich für manche dieser Patientinnen und Patienten bestätigen, dass sie die Ernährung haben schleifen lassen. Wir haben in Folge der Beschränkungen viele Diabetiker gesehen, deren Stoffwechsel sich sehr verschlechtert hat und die zugenommen haben. Diese Menschen haben sich wegen den Corona-Maßnahmen lange nicht in die Klinik getraut, hätten aber eigentlich kommen müssen – da sehen wir auch jetzt noch viele Kollateralschäden. Insbesondere Kinder und Jugendliche, und hier vor allem die Altersgruppe unter 12 Jahren, haben laut einer Studie aus Leipzig zugenommen. Hier wurden Dreimonats-Abschnitte in der Pandemie mit vorangegangenen Jahren verglichen. Das Ergebnis: Die Gewichtszunahme war bis zu dreißig Mal höher als zuvor.

Wer abnehmen will, soll Sport treiben: Welche Rolle spielt die Bewegung eigentlich wirklich?

Eine ganz entscheidende Rolle. Unter Bewegung arbeitet die Muskulatur und die Muskeln verbrennen Energie aus Kohlenhydraten. Wir haben Energiespeicher in der Muskulatur: In unsere Muskeln und die Leber passt zusammen tatsächlich ein Pfund Zucker. Stellen Sie sich da ruhig mal ein ganzes Paket Haushaltszucker vor. Wenn man körperlich aktiv ist, leert der Körper zunächst diese Speicher. Wer also regelmäßig sportlich aktiv ist, darf durchaus auch mal über die Stränge schlagen und zu viel essen oder auch mal ein Glas Cola trinken. Mit diesen Kohlenhydraten werden dann nur die leeren Energiespeicher wieder aufgefüllt und das führt – wenn es die Ausnahme bleibt – nicht zu einer Belastung des ganzen Stoffwechsels. Wenn man aber permanent nichts tut und nur isst, dann sind diese Speicher voll und dann wechselt der Körper sozusagen den Stoffwechsel. Er speichert Kohlenhydrate als Fett und insbesondere die Leber verfettet. Sie müssen sich das vorstellen wie in der Gänsemast: Gänse werden mit Kohlenhydraten gemästet und bekommen eine Fettleber. Wir mästen uns selbst, wenn wir ständig über die eigentlich benötigte Menge an Kohlenhydraten gehen.

Sie sagen, jeder Dritte hat hierzulande eine Fettleber?

Das stimmt – wenn auch nur zeitweilig. Denn man kann die Fettleber, die man sofort entwickelt, wenn man es mit dem Essen mal eine Zeit lang übertrieben hat, sozusagen übers Wochenende wieder loswerden, wenn man sich entsprechend einschränkt. Da hilft: Fett weglassen, Zucker weglassen. Und ganz wichtig: Natürlich auch den Alkohol. Insbesondere die Kombination von Alkohol plus schlechter Ernährung plus Adipositas aggraviert das Fettleberproblem noch mal ganz erheblich. Es gibt Untersuchungen, wonach 10% des bundesdeutschen Kalorienbedarfs durch Alkohol gedeckt werden, sodass das schon ein erwähnenswerter Faktor ist.

Inwiefern sind denn Kindheit und Jugend prägend für die Gewichtsentwicklung im Laufe des Lebens?

Sehr prägend und grundlegend. Wer als Kind übergewichtig ist, trägt das auch ins Alter. Eine gewisse Sportlichkeit nimmt man ebenso mit über die gesamte Lebensdauer. Klar gibt es Ausnahmen, aber statistisch gesehen ist das so. Man spricht da vom Vermächtniseffekt. Deswegen haben wir als Ärztinnen und Ärzte ein wenig Angst, welche Folgen da die Pandemie in Bezug auf die Übergewichtigkeit in der Bevölkerung künftig haben wird. Andererseits: Wer lange gute Stoffwechselparameter hat, wird auch im Alter daraus Vorteile ziehen, was Krankheiten wie Adipositas, Fettleber oder Diabetes betrifft.

Wie viel an Gewichtsabnahme ist Psychologie?

Ganz viel. Es geht darum, den inneren Genießer auszutricksen. Unser Belohnungssystem im Gehirn findet es gut, wenn wir essen – wir ziehen einen Gewinn daraus. Man muss also vor allem am Verhalten ansetzen. Insofern ist nachhaltiges Abnehmen immer auch Kopfsache und bleibt es auch, nachdem ich mein Gewicht reduziert habe. Sonst geht es weiter mit der Gewichtsspirale. Statistisch gesehen können sie mit einer unterstützenden Verhaltenstherapie fünf Kilo abnehmen. Das setzt bei den alltäglichen Dingen an: Wie komme ich durch den Alltag? Wie komme ich „sicher“ durch den Supermarkt? Die Behandlung von Adipositas funktioniert nachweislich am besten in Kombination von Ernährung, Bewegung und Psychotherapie.

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